Die Letzten ihrer Art

Text: Sophia Blank | Fotos: Richard Kienberger

Die Welt verändert sich – und mit ihr die Menschen, ihre Lebensweisen und nicht zuletzt auch ihre Arbeitswelt. Während durch das digitale Zeitalter immer mehr neue Berufe geschaffen werden, verschwinden andere nach und nach ganz von der Bildfläche oder sind vom Aussterben bedroht. Einer davon ist der Beruf des Buchbinders. Früher essenziell, um Gedrucktem einen ansprechenden Rahmen zu geben, fristet dieses Handwerk heute nur noch ein Nischendasein. Für Quer 19+ haben wir Martin Petschenka, Buchbinder aus Baar-Ebenhausen, in seiner Werkstatt besucht und ihm bei seiner Arbeit über die Schulter geschaut. Aber beginnen wir von vorne.

Nichts ist so stetig wie der Wandel. Das ist kein neues Phänomen und irgendwie sind wir die allmähliche Veränderung ja auch gewohnt. Wenn der sonst eher langsam fortschreitende Wandel aber geballt und ungewohnt schnell Änderungen mit sich bringt, gerät die Welt des Gewohnheitstiers Mensch schnell ins Wanken.

Einen besonders einschneidenden Umbruch erlebten die Menschen im 19. Jahrhundert, als die industrielle Revolution die Wende von der Agrar- zur Industriegesellschaft einläutete. Knapp 200 Jahre später befinden wir uns mitten im Wandel zur Industrie 4.0. Die fortschreitende Digitalisierung und neue Technologien schreiben Wissen, Informationen und Dienstleistungen eine immer größere Bedeutung zu. Da ist es nur die logische Konsequenz, dass sich in diesen Branchen neue Berufe entwickeln, wie zum Beispiel im Bereich der Robotik. Andere Berufe hingegen kennt man heute kaum mehr. Immer wieder hat man das Gefühl, als würden traditionelle Handwerksberufe kaum noch gelernt oder praktiziert werden. Aber haben sie durch den Wandel wirklich ihre Daseinsberechtigung verloren?

In 22 von 110 jahrhundertealten Handwerksberufen gibt es heute kaum mehr Auszubildende. Nur vier junge Menschen haben sich im letzten Jahr in Bayern dazu entschlossen, eine Ausbildung als Buchbinder zu begrüßt er uns, als wir ihn für unseren Interviewtermin in seiner Werkstatt besuchen. Abgesehen von einigen wenigen Druckereien mit angeschlossener Buchbinderei ist Martin Petschenka im Landkreis der letzte seiner Art.

Heute kann man von diesem Beruf nicht mehr leben, geschweige denn eine junge Familie ernähren“,

Seine Wirkungsstätte befindet sich im Keller des Wohnhauses. Mit jeder Stufe, die wir hinunter in Richtung Buchbinderei steigen, tauchen wir tiefer ein in eine neue „alte Welt“. Es scheint, als könne man die Bücher, die hier unten in aufwendiger Handarbeit entstehen, förmlich riechen. Bis unter die Decke stapeln sich unterschiedlichste Papierbögen, Pappen, Büttenpapier, Leinenstoffe und Lederrollen in verschiedensten Farben. Auf mehrere Räume verteilt stehen Maschinen, von denen zumindest ich bis heute noch nie eine gesehen habe. Manche davon scheinen, als seien sie einem Geschichtsbuch entsprungen. Ganz so falsch ist die Vermutung übrigens nicht, denn die Buchfertigung funktioniert auch heute noch zum Großteil wie vor 100 Jahren in Handarbeit. Beim Anblick der vielen unterschiedlichen Hilfsmittel und Maschinen schießt mir der Gedanke durch den Kopf, dass Buchbinden wohl doch etwas aufwendiger sein könnte, als ich mir das zuvor gedacht hatte. Dass diese Vermutung immer noch weit gefehlt war, das wurde mir erst klar, als uns Martin Petschenka in die Kunst des Buchbindens einweihte. Über 30 Arbeitsschritte sind nötig, um für bedrucktes Papier einen bleibenden Rahmen zu schaffen, erklärt der Buchbindermeister, der seit 1982 sein eigenes Unternehmen betreibt. Als Garagenfirma in Reichertshofen gegründet, wechselte er wegen des besseren Umfelds bald nach Ingolstadt. Zwischenzeitlich beschäftigte er sieben Mitarbeiter, und Lehrlinge zu finden war in den Achtziger- und Neunzigerjahren kein Problem. „Aktiv nach Personal gesucht habe ich nie. Die jungen Leute sind immer direkt auf mich zugekommen und haben gefragt, ob sie bei mir ihre Ausbildung machen können.“ Die Auftragslage verschlechterte sich allerdings über die Jahre und schließlich zog die Buchbinderei in den heimischen Keller. Von den Mitarbeitern ist heute noch eine Angestellte übrig, die den Buchbinder an zwei Vormittagen in der Woche unterstützt.

Besonders wenn es um die aufwendige Fadenbindung geht, ist der Buchbinder froh um eine helfende Hand.

Bis aus den einzelnen Bögen schließlich > ein Buch entsteht, sind unzählige Arbeitsschritte notwendig. Besonders die Faden­bindung erfordert viel Ruhe und Geduld.

wird. Die Technik der Fadenheftung hat sich über die Jahrhunderte bewährt und funktioniert auch heute noch genau so wie zur Zeit ihrer Erfindung.

Petschenka nimmt eine Masterarbeit zur Hand, die eine Klebebindung bekommen soll. Im Gegensatz zur Fadenbindung ist die nicht ganz so aufwendig. „Als wir noch in Ingolstadt waren, hatten wir auch viel mehr Aufträge von Studierenden und Doktoranden. Heute hat kaum einer mehr die Zeit, geschweige denn ist er dazu bereit, das von einem Buchbinder machen zu lassen. Das geht alles im Copyshop um die Ecke schnell und günstig – die Anforderungen der Hochschulen an die Bindung von Abschlussarbeiten haben sich verändert. Meist reicht es sogar, nur ein Exemplar abzugeben und der Rest wird digital mitgeliefert. Allgemein hat uns die Digitalisierung das Geschäft schon stark beeinträchtigt“, meint Martin Petschenka, als er die Papierbögen in eine sogenannte Lumbeck-Presse einspannt, um die einzelnen Blätter zu verkleben.

Während die Ursprünge des Buchbindens bis ins sechste
Jahrhundert auf den irischen Mönch Dagaeus zurückzuführen sind, kam das Binden der Bücher durch Klebstoff (Klebebindung) erst vergleichsweise spät auf.

Im 19. Jahrhundert war die Menge der gedruckten Bücher enorm an­gestiegen und man suchte nach einer schnelleren, günstigeren Alternative zur aufwendigen Fadenbindung. Allerdings scheiterte man immer wieder an der richtigen Verklebung. Erst dem Berliner Buchbinder Emil Lumbeck gelang vor knapp 100 Jahren der Durchbruch mit der Entwicklung eines Klebstoffes, der den Buchblock so zusammenhielt, dass er dennoch flexibel blieb.

Ein besonders wertvolles Exemplar, an dem Martin Petschenka gerade in seiner Werkstatt arbeitet, ist eine alte Bibel.

Jetzt fehlt noch das Vorsatzpapier, das die Verbindung zwischen Buchblock und Einband darstellt. Auch dieses wird sorgfältig an den Block geklebt. Dann muss der fertige Buchblock erst einmal trocknen. Am besten über Nacht, wie uns der Buchbindermeister erklärt.

Wie lange es dauert, bis ein Buch fertig ist, das könne er nicht genau sagen. In der Buchbinderwerkstatt werde alles nach Kundenwunsch gefertigt – erst kürzlich sei eine Kundin bei ihm gewesen, die einen besonderen Einband für ihr Buch wünschte, erzählt Petschenka, „da saß ich allein für die Prägung des Einbands eine ganze Stunde“.

Martin Petschenka fertigt allerdings nicht nur neue Bücher an: Als Buchbinder zählt auch das Restaurieren oder Reparieren alter Bücher zu seinem Handwerk. In den 40 Jahren, in denen er mittlerweile seinen Beruf ausübt, hat er dafür gesorgt, dass ein ums andere Mal aus einem heruntergekommenen und kaputten Schriftstück ein wahrer Bücher­schatz wurde, der noch lange Bestand hat. Besonders oft kommen Kunden mit alten Kinderbüchern oder dem berühmten Regensburger Kochbuch von Marie Schandri zu ihm, um ihre alten Raritäten repa­rieren zu lassen.

Und dann zeigt uns Martin Petschenka auch noch ein besonders wertvolles Buch. Es ist ein Geburtenregister aus dem Jahr 1701.

Unter anderem waren die Ecken vom vielen Herausnehmen aus dem Regal beschädigt. Dank des Buchbinders sind sie nun mit neuem Leder überzogen. Andächtig blättert er durch die Seiten. Man kann noch entziffern, was vor über 300 Jahren handschriftlich Zeile für Zeile auf Papier festgehalten wurde. „Früher war die Beurkundung und die Führung des Personenstands in der Verantwortung der Kirche. Hier hat der Pfarrer alle Geburten eingetragen“, schildert er uns. „Es ist immer wieder eine große Ehre, an einem Buch, das so viel Geschichte in sich trägt, arbeiten zu dürfen.“

Unzählige Male nimmt er ein Buch in die Hand, bis es schließlich fertig ist. Stolz ist er auf seine Arbeit, aber der Stellenwert der Bücher sei heute leider nicht mehr das, was er mal war.

Der Wandel zur Wegwerfgesellschaft und die Digitalisierung täten dabei ihr Übriges. Die Qualität und Arbeit, die in einem handgemachten Gegenstand steckten, würden nur noch selten (an)erkannt – da sei es kein Wunder, dass auch nur noch wenige bereit seien, den angemessenen Preis zu zahlen. „Heute kommt kaum mehr ein Kunde persönlich vorbei, um gemeinsam mit mir das passende Material auszusuchen. Früher war es ganz normal, dass die Vorstände großer Unternehmen bei mir in der Werkstatt standen und sich beraten ließen. Heute läuft das üblicherweise über das Telefon, die meisten schreiben eine E-Mail und dann geht es sofort um die Kosten.“

Persönliches ist zur Seltenheit geworden. „Qualität hat ihren Preis“ – dass in dem Satz, der mittlerweile eher zu einem Werbeclaim verkommen ist, viel Wahres steckt, haben wohl viele vergessen. Und so geht es neben der Buchbinderei auch den anderen Handwerksberufen, die langsam, aber sicher von der Bildfläche verschwinden. Dabei sind es jene kleinen Handwerksbetriebe, die Einzelstücke produzieren, die die Zeit festhalten und Erinnerungen wecken, mit denen die Massenproduktion der Konkurrenz nicht mithalten kann.