Ja zu Pfaffenhofen

Text: Sophia Blank // Fotos: Richard Kienberger

Anfang Februar fand sich in der Lokalzeitung anlässlich der Stippvisite von Gesundheitsminister Karl Lauterbach eine interessante Meldung: „Daiichi Sankyo investiert eine Milliarde Euro in den Standort Pfaffenhofen.“

Der erste Gedanke vieler Leserinnen und Leser dürfte dabei gewesen sein: „Das ist ganz schön viel Geld!“ Aber ob man beim Überfliegen des Artikels die Dimension dieser Summe wirklich erfassen kann, ist zu bezweifeln. 1.000.000.000 – eine Milliarde ist eine Eins mit neun Nullen. Zum Vergleich: Die 19 Kommunen im Landkreis nahmen 2022 knapp 83 Millionen Euro an Gewerbesteuern ein.


In Pfaffenhofen werden seit mehr als 60 Jahren Medikamente produziert. Ursprünglich im Luitpold-Werk, ehe 1990 das japanische Unternehmen Sankyo den Standort übernimmt, um damit auf dem europäischen Markt präsent zu sein. 2005 gründen Sankyo und Daiichi eine gemeinsame Beteiligungsgesellschaft, das Werk in Pfaffenhofen gehört fortan zu Daiichi Sankyo Company Ltd. Quer 19 hat vor rund zehn Jahren in einer der ersten Ausgaben von den „Tablettenbäckern“ im Ilmtal berichtet. Seitdem hat sich viel getan auf dem Firmenareal. Die charakteristischen türkis-weißen Gebäude, die schon von Weitem aus der Pfaffenhofener „Skyline“ hervorstechen, wenn man auf der Staatsstraße von Geisenfeld in Richtung Kreisstadt fährt, sind längst nicht mehr die einzigen, die zum japanischen Pharmakonzern gehören. Auf dem großen Areal werden drei neue Gebäude errichtet – damit wird der Standort Pfaffenhofen zum internationalen Innovationszentrum ausgebaut.

„Diese Investitionen sind ein klares Bekenntnis zu unserem Konzernziel, zur Verbesserung der Lebensqualität auf der ganzen Welt beizutragen. […] Unser Standort Pfaffenhofen hat mit seiner langjährigen Expertise dafür alle Voraussetzungen“, erklärte Masahiro Kato, Managing Director und Vorsitzender der Geschäftsführung von Daiichi Sankyo Europe GmbH bei der Eröffnung des ersten von drei neuen geplanten Gebäuden. Neben zusätzlichen Produktionskapazitäten im Bereich der Medikamente für Herz-Kreislauf-Erkrankungen werden neue Labore, insbesondere für die Antikörper-Wirkstoff-Konjugat-Technologie (engl. Antibody Drug Conjugates, kurz ADC), entstehen.

Blickt man in der Historie des Pfaffenhofener Standorts zurück, hat das Unternehmen in den letzten Jahrzehnten einige Wachstumspillen geschluckt: von der Schmerzsalbe Mobilat (die Produktion ist auf das Unternehmen Stada übergegangen), über Olmesartan in den 2000ern, einen Wirkstoff zur Blutdrucksenkung, bis zum Blut­verdünner Edoxaban Mitte der 2010er-Jahre. Den größten Wachstumsschub und damit auch den Durchbruch auf dem Gebiet der onkologischen Therapien versprechen heute ADCs. Vor einigen Jahren begann mit der Markteinführung des Mittels Enhertu in den USA für Daiichi Sankyo eine neue Ära, auch in Pfaffenhofen. Kurz darauf fiel die Entscheidung, zwei neue Gebäude, intern mit „F4“ und „AD/QC“ bezeichnet, am oberbayerischen Standort zu errichten, um das Werk zu dem Spezialisten für ADC-Krebstherapien zu machen. 2023 folgte das „Go“ für ein drittes Gebäude. Mit diesem Investment werde Daiichi Sankyo „sehr wahrscheinlich in die ‚erste Liga der Biotech-Unternehmen‘ in der DACH-Region aufsteigen“, hofft der Arzneimittelhersteller.

Matthias Kühn, Standortleiter des Pfaffenhofener Werks, fasst die Wirkweise der Antikörper-Wirkstoff-Konjugate so zusammen: ADCs steuern zielgerichtet die Tumorzelle an. Und erst wenn sie dort andocken, wird der Wirkstoff freigesetzt.“ Wie der Name impliziert, umfasst die Technologie drei Schlüsselelemente: einen Antikörper, einen hochtoxischen Wirkstoff (wie bei einer Chemotherapie) und eine Verbindungseinheit. Noch einmal Matthias Kühn: „Vereinfacht ausgedrückt handelt es sich bei ADCs also um Chemotherapien, die im Gegensatz zu den herkömmlichen Therapien gezielt in der Krebszelle wirken und das gesunde Gewebe vor den toxischen Wirkstoffen schützen.“ Das führt zu einer Verringerung der Nebenwirkungen, ermöglicht höhere Dosierungen und verbessert somit die Bekämpfung der Tumorzellen.



Es ist oft der Fall, dass sich bei solchen Vorhaben mehrere Unternehmen zusammenschließen, weil die Neuentwicklung von Medikamenten sehr hohe Investitionen erfordert. Bereits 2019 wurde dafür eine Kooperation mit einem Umfang von annähernd sieben Milliarden Dollar abgeschlossen. Enhertu ist seit fünf Jahren in den USA bei inoperablen Brustkrebs­erkrankungen im Einsatz, seit 2021 hat das Antikörper-Wirkstoff-Konjugat auch in Europa die Zulassung und gilt als das erfolgreichste ADC im Markt. Enhertu ist für Daiichi Sankyo aber erst der Anfang der neuen strategischen Ausrichtung. Ziel ist es, zu einem globalen Player in der Onkologie aufzusteigen. Insgesamt, so lässt das Unternehmen wissen, werde parallel an mehreren weiteren ADC-Medikamenten und Ansätzen geforscht, in Arbeit seien mehr als vierzig klinische Studien. Matthias Kühn: „Die Tatsache, dass wir uns in Pfaffenhofen zukünftig vermehrt um onkologische Therapien kümmern werden, ist in zweierlei Hinsicht positiv, insbesondere auch für Patientinnen und Patienten: Zum einen können wir maßgeblich zur Deckung der weltweit gestiegenen Nachfrage nach ADC-Krebstherapien beitragen. Zum anderen stellen wir unsere Zukunftsfähigkeit und die Spitzenqualität, die wir hier leisten, unter Beweis.“

Ein bahnbrechender Erfolg. Ein klares „Ja“ für Pfaffenhofen. Eine Mega-Investition. Dass hinter diesem Erfolg jahrelange Forschungsarbeit steht, die sich jetzt bezahlt macht, mag ein Laie verstehen. Was mich beschäftigt, ist die Frage: „Wie wird eine Milliarde Euro in drei Gebäuden, die nicht allzu groß sind, verbaut?“

Weil es sich im Moment eben noch um eine Baustelle und kein klinisch reines Produktionsgebäude handelt, erklärt sich Daiichi Sankyo gerne bereit, uns durch das Gebäude „F4“ zu führen. Streng nach Vorschrift mit Helm, Sicherheitsschuhen und Warnweste ausstaffiert, lassen wir uns von Projektleiter Wolfgang Bayer und Matthias Kühn durch die Baustelle führen. „So nah kommt man hier später nicht mehr hin“, betonen beide, „schließlich muss dann alles steril sein!“

Schon auf dem Weg zum neuen Trakt zeigt sich die Dimension des Projekts. Weit mehr als 100 Bürocontainer wurden auf die Baustelle in Pfaffenhofen transportiert und neben dem Rohbau aufgestellt, täglich sind 350 Handwerker auf dem Gelände im Einsatz. Die Fäden laufen bei Wolfgang Bayer zusammen: „Zu Spitzenzeiten waren es sogar 470 Personen, die hier gleichzeitig koordiniert werden mussten. Ich komme eigentlich aus dem Großanlagenbau, hier merkt man schon, dass in der Pharmaindustrie alles noch viel feingliedriger und komplexer ist. Bevor auch nur irgendeine Mauer gesetzt wird, muss man schließlich wissen, wie die Prozesse später abgebildet werden und sich in den Räumen umsetzen lassen“, erläutert er auf dem Weg zu F4.

„Fill and Finish“, also Abfüllen und Fertigstellen, das soll hier einmal stattfinden. Maler, Elektriker, Lüfttungsbauer, Maurer, Fliesenleger, Dachdecker, Schreiner, Rohrleitungsbauer tummeln sich im Erdgeschoss. Hier hängen noch Kabel aus der Decke, der Blick auf die Lüftungsrohre ist freigelegt. „So wird das später natürlich nicht mehr aussehen, aber beim jetzigen Stand bekommt man einen Eindruck von der Infrastruktur, die nach der Fertigstellung hinter den Wänden verborgen liegt“, erklärt Wolfgang Bayer.



Ein paar Schritte weiter herrscht emsiges Treiben. „Heute findet der erste Testlauf statt“, erklärt Matthias Kühn. Tausende kleine braune Fläschchen rauschen hinter gläsernen Wänden vorbei, alles unter den konzentrierten Blicken der Mitarbeitenden, die jeden einzelnen Schritt ganz genau beobachten. In einem Raum werden die Vials, wie die Fläschchen von Pharmazeuten genannt werden, aus der Verpackung in die Maschine eingesetzt. Eins nach dem anderen reiht sich in die Anlage ein, um von dort aus weitertransportiert zu werden. Bevor sie befüllt werden, geht es noch einmal durch den „Spülgang“. Aktuell arbeitet man selbstverständlich nicht mit dem wertvollen Medikament. „Unser Test läuft heute mit Wasser, das reicht vollkommen aus, um zu sehen, wie die Maschinen funktionieren“, sagt der Werksleiter. Es klackert in regelmäßigem, aber schnellem Rhythmus, Prozesse greifen rasant ineinander. „Die größte Herausforderung ist, dass alles steril sein muss“, sagt Matthias Kühn. In den Scheiben, hinter denen sich gerade der Test abspielt, sind kreisrunde Löcher, die in lange Handschuhe übergehen. Durch diese können die Mitarbeitenden später in das Geschehen eingreifen, ohne die Sterilität zu gefährden. „Trotzdem ist das natürlich immer eine heikle Angelegenheit und will gelernt sein“, erklärt der Standortleiter. „Beim geringsten Zittern würde die äußerst filigrane Arbeit zur unlösbaren Aufgabe.“

Der weitere Weg durch das Gebäude F4 führt uns auf eine höhere Ebene. Hier ist die Lüftungsanlage untergebracht. Riesige Geräte, hoch technologisiert, sind dafür zuständig, die Luft in den anderen Geschossen zehn- bis zwölfmal pro Stunde komplett auszutauschen. So sind die gesetzlichen Vorgaben. Wie viele Kilometer an Kabeln und Rohren mögen allein in diesem Gebäude verbaut worden sein? „Das sind einige“, lacht Wolfgang Bayer. 450 km Kabel, 50.000 m3 Aushub, 14.000 m3 Beton und 28 km Rohrleitung. Besonders deutlich wird das in der Zwischendecke. Ein Labyrinth aus silberfarbenen und roten Rohren wurde hier eingezogen, nur für unbedarfte Laien stellt die Systemtechnik ein nicht begreifbares Gewirr dar. Aber jedes dieser Rohre erfüllt einen exakt definierten Zweck. So geht es auch weiter bei den Kühlanlagen, eines der vielen Herzstücke des neuen Gebäudes. Matthias Kühn: „Unsere Medikamente müssen alle eine bestimmte Temperatur haben, wenn sie hergestellt, verpackt, gelagert und auch ausgeliefert werden. Dahinter steckt ein hochkomplexes Überwachungsverfahren.“



Das wird spätestens beim Betreten des Lagers für die ADC-Medika­mente deutlich. „Sauerstoffreduzierte Atmosphäre“ warnt ein gelbes Schild am Eingang. Um einen Feuerausbruch zu vermeiden, wird der Umgebung im Lager Sauerstoff entzogen – einem potenziellen Feuer fehlt dadurch die sprichwörtliche „Luft zum Atmen“. „Sobald wir hier einen Brand hätten, würde sich die Sprinkleranlage anschalten – und wir müssten alle Medikamente sofort entsorgen“, erklärt Matthias Kühn den Grund für die Vorsichtsmaßnahme. Zudem ist es ziemlich kalt, denn auch das Kühllager ist schon im Testbetrieb. In den Hochregalen stapeln sich blaue Fässer, die ebenfalls mit Wasser gefüllt sind. „Wir testen hier, wie sich die Temperatur verändert, wenn wir beispielsweise Fässer mit Wasser, das Außentemperatur hat, einbringen.“ Je nach Anforderung müssen ADCs zwischen 2 und 8 °C oder -15 und -25 °C gelagert werden. Die Lagertemperatur wird bis auf die dritte Nachkommastelle genauestens überprüft. „Nur so können wir sehen, ob die Anlage den Anforderungen standhält.“ Später erfahren wir, dass der oder die zuständige Mitarbeitende für das Lager ganz genau weiß, dass wir uns für eine kurze Zeit dort aufgehalten haben, denn die Wärme eines menschlichen Körpers sorgt bereits für Ausschläge auf der Temperaturanzeige.

Raus aus der Kältekammer, rein in blaue Überziehschuhe: Die nächsten Stationen auf dem Rundgang führen in den Bereich des Gebäudes, der weitgehend fertiggestellt ist. „Hier müssen wir jetzt nach und nach steril werden“, erklärt Wolfgang Bayer. „Das ist jetzt auch der Bereich, der am ehesten so aussieht, wie sich ein Außenstehender einen Pharmakonzern vorstellt. Weiß, clean, es riecht nach Desinfektionsmittel, steril.“ Die einzigen Farbtupfer im blendend weißen Trakt sind die blauen und grünen Stühle, die für die Mitarbeitenden schon bereitstehen. Bis zu 350 neue Arbeitsplätze sollen bis 2030 im Rahmen des Investitionsprogramms zusätzlich zu den bisherigen 800 Stellen geschaffen werden. Dabei sind die Stellenbeschreibungen vielfältig, gesucht wird in allen Bereichen: Lager, Produktion, Verpackung, Forschung. Auch den Ausbildungsbetrieb hat man wieder aus dem  Dornröschenschlaf geweckt. „Als größter Arbeitgeber Pfaffenhofens ist es ein No-Go, nicht in den Nachwuchs zu investieren“, bezieht Matthias Kühn klar Stellung. Umso glücklicher sei man, seit Kurzem wieder Auszubildenden in den Berufsbildern Industriemechaniker/in und Laborant/in das breite Spektrum des Unternehmens näherbringen zu können. Weitere Ausbildungsberufe wie z. B. Pharmakant/in und Logistiker/in sind in Planung.

Über 50 Länder weltweit werden außerhalb Japans beliefert, damit ist der größte globale Produktionsstandort auch das logistische Drehkreuz für den japanischen Pharmakonzern, der in der Kreisstadt für Superlative sorgt.