Beim Wachs-Hans
Text: Frieder Leipold | Fotos: Richard Kienberger
Hinten im Erdgeschoss des Café Hipp über den Regalen mit den vielen Kerzen hängen alte Fotos. Mehrere davon zeigen Hans Hipp als einen Burschen mit vollen, dunklen Haaren, der sich in seine Arbeit versenkt. Der konzentrierte junge Mann fertigt auf den Bildern zusammen mit den Eltern Kerzen in traditioneller Manier. Schon damals, 1969, taten sie das nur noch zu Vorführungszwecken. Heute kennen die meisten das Café Hipp wegen seiner Kuchen und Torten, wegen der netten Sitzplätze auf dem Unteren Hautplatz oder wegen der weltlängsten Praline. Mich aber, der ich dem Süßen seit Geburt abgeneigt bin, interessiert weniger der Sahne-Hans, wie viele Pfaffenhofener den Chef des Hauses nennen, als vielmehr der Herr der tausend Kerzen: der Wachs-Hans eben.
Es gibt keinen besseren Tag als den 2. Februar,
um sich mit ihm zu verabreden. Lichtmess war früher für den Berufsstand der Wachszieher der wichtigste Tag im Wirtschaftsjahr, so etwas wie heute für die Floristen der Valentinstag. Der Hans Hipp, den ich an diesem Tag treffe, ist ein entspannter Mann im besten Alter mit inzwischen weißem Haar und Schnurrbart. Vorne im Laden, wo die Konditorei ihr Naschwerk anbietet, herrscht reger Betrieb. Von einem Festtag aber ist nichts zu spüren. Hinten bei den Kerzen will ich mir von Hans Hipp etwas über das alte Handwerk des Wachsziehers erzählen lassen.
Als er zu reden beginnt, bekomme ich bald eine Ahnung, wie wichtig Lichtmess in diesem Haus einmal gewesen sein muss. Hans Hipp erklärt, dass die gemauerten Bögen im hinteren Teil des Ladens an genau der Stelle neu gebaut wurden, an dem sich früher das Wachsgewölbe befand. Darin lagerten die Kerzen, und hier empfingen sie auch am 2. Februar den Lichtmess-Segen von einem geistlichen Herrn. Hipp erzählt, wie gerührt sein Vater war, als ausgerechnet an Lichtmess, dem Hochfest seiner Zunft, einer seiner Enkel geboren wurde.
Doch Hans Hipp erinnert sich auch an den Stress, den er als Jugendlicher an diesem Tag hatte: „Zusammen mit meinem Vater besuchte ich gleich mehrere Kirchen in der Stadt und im Umland. Lichtmess war für mich als Jugendlichen ein wirklich anstrengender Tag.“ Er erlebte an diesem Tag bei aller Betriebsamkeit den Respekt, den man den gezogenen Kerzen zollte: „Am schönsten war es immer in der Kirche von Tegernbach. Da waren die Kerzen zu Pyramiden geschichtet und mit einem roten Band umfasst. So lagen sie dann auf dem Altar. Da habe ich erfahren, welche Wertschätzung man unserem Handwerk entgegenbrachte.“
Die Kerzenweihe von Lichtmess strahlte auf das ganze Jahr aus.
Unzählige Male bekam der junge Hans Hipp im väterlichen Betrieb von den Kunden die alles entscheidende Frage zu hören:
„San’s a gweicht?” (Sind sie auch geweiht?)
Wir stehen neben Diana, der Dame an der Kasse der Wachsabteilung. Hans Hipp erkundigt sich bei ihr, ob sie die alte Frage auch heute noch zu hören bekommt. „Hin und wieder schon noch“, sagt sie, und man merkt, wie sehr er sich über diese Antwort freut, darüber, dass sich die Tradition ein Stück weit erhalten hat. Denn aus dem jungen Mann, den die Frage nach der Kerzenweihe früher manchen Nerv gekostet haben mag, wurde ein leidenschaftlicher Brauchtumsforscher, der bereits mehrere Bücher über das Handwerk des Lebzelters und Wachsziehers veröffentlicht hat. Im Hipp-Haus am Hauptplatz gewannen die Konditorei und das Café an Bedeutung, im ersten Stock aber richtete Hipp ein Museum ein. Gezeigt werden dort das Handwerk des Lebzelters und des Wachsziehers. Beide verarbeiten die Produkte der Biene, der eine den Honig, der andere das Wachs, und meist wurde ihr Handwerk von ein und derselben Person ausgeübt. Süße Lebkuchen, berauschender Met und wächserne Waren gehörten über Jahrhunderte hinweg zusammen. Im Hause Hipp lassen sich diese Berufe bis zum Jahr 1610 zurückverfolgen, was 2010 mit einer großen 400-Jahre-Feier begangen wurde.
Seit Jahrzehnten führt Hans Hipp immer wieder Gruppen aus dem gesamten Voralpenland durch sein Haus und das Museum. So erfuhr er, welches Brauchtum rund um die Kerzen in welcher Gegend Südbayerns verbreitet ist. „Diese Traditionen werden immer weniger gepflegt“, sagt Hipp. Früher gab es in jedem Hof eine geweihte Hauskerze, Taufkerzen für den Nachwuchs, schwarze Wetterkerzen gegen Blitzschlag und für die Kinder bunte Pfenniglichter, die genau einen Rosenkranz lang brannten.
Es gab aber auch ganz weltliche Lichtmess-Bräuche, wie Hans Hipp erzählt: „An Lichtmess war es Brauch, dass sich Knechte bei der Magd, die ihnen das Jahr über den Strohsack zum Schlafen aufgeschüttelt hatte, mit einem Wachsstock bedankten.“ Waren sie mit der Arbeit unzufrieden, versteckten sie den Wachsstock im hintersten Zipfel des Strohsacks, so dass die Magd ihn zumindest diesmal sorgfältig aufschütteln musste. Diese Wachsstöcke galten bei alledem als Gunstbeweise der Burschen für verehrte Dirndln. „Auch nach der Hochzeit zeigten Frauen stolz ihre Sammlung von kunstvoll verzierten Wachsstöcken, die sie einst an Lichtmess geschenkt bekommen hatten, um zu zeigen, wie begehrt sie einst gewesen waren.“
Da unterbricht Hans Hipp. Unter den Kunden hat er ein bekanntes Gesicht entdeckt. Es ist der Mesner aus Hirschenhausen, der es sich nicht nehmen lässt, die Kerzen für seine Kirche termingerecht an Lichtmess einzukaufen, auch wenn sie an diesem Tag schon lange nicht mehr gesegnet werden. Der Mesner nebst Gattin freut sich über einen Kaffee aufs Haus, und ich freue mich, Zeuge eines doch noch lebendigen Lichtmess-Brauchtums zu werden.
Ich folge Hans Hipp ins Museum in den ersten Stock. Hier sind die Handwerksgeräte des Wachsziehers und Lebzelters ausgestellt. Doch das eigentliche Herzstück der Sammlung sind die wächsernen Votivgaben. Augen, Beine, Hände, Ohren und Zungen stehen herum, ja sogar innere Organe wie Lunge samt Luftröhre – die gesamte menschliche Anatomie aus Wachs. Der Ursprung für diese Votive ist die Vorstellung, durch Gelübde einen Handel mit dem Himmel eingehen zu können, der mit dem teuren Rohstoff Wachs zu bezahlen ist.
Mancher, der darniederlag, versprach bei einer Heilung zum Dank eine Nachbildung des erkrankten Körperteils zu opfern.
Es finden sich aber auch Votive für das Vieh, das Haus oder symbolische Formen wie ein Messer als Sinnbild für stechende Schmerzen. In unserer Gegend richteten sich solche Gelübde besonders oft an das Gnadenbild der Muttergottes von Niederscheyern. Es wurden so oft Wachsvotive aus Pfaffenhofen in den Nachbarort gebracht, dass der Weg zwischen den Ortschaften im Volksmund bald Wachsstraße hieß. Die Vorgänger von Hans Hipp waren also mit dem Gießen von Votiven gut beschäftigt.
Wurden die Gebete der Bittsteller erhört, waren neben den Opfern aus Wachs auch schriftliche Einträge in Mirakelbücher fällig. Diese Eintragungen waren zwar kostenpflichtig, aber nach den damaligen Vorstellungen unabdingbar, weil andernfalls das Leiden zurückkehren konnte. „Ich habe die Mirakelbücher von Niederscheyern für mich entdeckt“, sagt Hans Hipp. Die Niederschriften aus den Jahren von 1635 bis 1830 wurden für ihn ein ganz neuer Zugang zu seiner Sammlung von Votiven und den dazugehörigen Holzmodeln, den Formen für das Gießen der Votive. Zusammen mit Pater Franz Gressierer aus dem Kloster Scheyern, wo die Mirakelbücher heute liegen, entschlüsselte er die Einträge. „Dabei haben wir auch Erklärungen für Votive gefunden, die uns vorher ein Rätsel waren.“
Hans Hipp zeigt auf eine wächserne Kugel. Früher hat er sie als Augapfel angesehen, doch sie entpuppte sich als Votivgabe bei Geschwüren. Ein Eintrag aus dem Jahr 1706 lässt daran kaum Zweifel: „Maria Neumayr von Pfaffenhofen hatte ein Apostem oder Geschwür an der Seite, welche, nach getanem Gelübde mit einer Heiligen Messe, Geldopfer auch einer wächsernen Kugel, einen Vierling schwer, vergangen ist.“ Aus den Mirakelbüchern sprechen die einfachen Menschen in ihrer eigenen Sprache und teilen ihre Vorstellungen von Religion und Wunderglauben mit.
In der jüngeren Vergangenheit wird der Glaube an Gnadenorte gerne als peinlicher Aberglaube abgelehnt.
Gleich kistenweise entsorgten vermeintlich aufgeklärte Bilderstürmer Wachsvotive aus der Kirche in Niederscheyern. Natürlich muten viele der in den Mirakelbüchern geäußerten Vorstellungen aus heutiger Sicht reichlich naiv an. Doch abgesehen von der theologisch-religiösen Ebene sind die Votive aus medizinhistorischer Sicht von Interesse. Zum einen lässt sich an den wächsernen Nachbildungen erkennen, welche anatomischen Kenntnisse man damals schon vom Innern des Körpers hatte. Zum anderen scheint der Glauben an die Gelübde den Menschen tatsächlich bei manch einem Selbstheilungsprozess geholfen zu haben.
Forscher haben gerade erst begonnen, die Bedeutung von Erwartungshaltung im Heilungsprozess oder den Ablauf von Spontanheilungen zu erforschen. Bedenkt man, dass als medizinische Alternativen damals meist nur unkundige Wundschneider oder Bader zur Verfügung standen, die Erkrankungen eher verschlimmbesserten, als zu helfen, war die Zuflucht zu den Gelübden möglicherweise die sinnvollere, Erfolg versprechendere Entscheidung. In der Festschrift zum 400-jährigen Jubiläum schreibt Hans Hipp: „Die Suche nach spirituellem Trost und göttlicher Hilfe in Krankheit und Not ist nicht nur von historischem Interesse. Das Thema Glaube und Heilung ist bis auf den heutigen Tag aktuell.“
Hans Hipp verabschiedet sich, am Ende unseres Treffens gehe ich im Laden im Erdgeschoss noch einmal in die Kerzenabteilung und kaufe mir bei Diana einen einfachen Wachsstock, den man früher in der Rocktasche trug, um gegen das Böse gefeit zu sein. Der Wachsstock ist nicht geweiht, und abergläubisch bin ich auch nicht.