„A Sau musst dir dersitzen“
Text: Frieder Leipold | Fotos: Richard Kienberger
Sie sind kaum zu glauben, die Geschichten über die Wildsau. Bei Koppenbach in der Gemeinde Hohenwart soll eine Sau geschossen worden sein, die nur noch drei Beine hatte. Das vierte hatte sie vor langer Zeit verloren, denn der Stumpf war in der Zwischenzeit wieder voll mit Fell überwachsen. Das Tier stand zum Zeitpunkt seines Todes in Saft und Kraft. Es muss also eine gute Gegend sein für die Sau, wenn sie selbst auf drei Haxen ein derart gutes Leben führen kann.
Solche Geschichten von erlegten Wildschweinen im Landkreis wären früher schnell als Jägerlatein abgestempelt worden. „Das gibt’s nicht“, hätte es geheißen, denn die Wildsau ist erst seit einigen Jahren wieder heimisch. Reinhold Zilker von der Jägerschule in Pfaffenhofen erklärt: „Bis vor 15 Jahren hatte man hier mit dem Wildschwein keine praktische Erfahrung. Man hat das Tier eigentlich nur aus dem Buch gekannt.“ Als sich das Schwarzwild dann wieder in der Gegend ansiedelte, wurden viele Fehler bei der Bejagung gemacht. Man verstand die besondere Lebensweise der Wildsau nicht. Um solche Fehler in Zukunft zu vermeiden, macht Zilker seinen Schülern ganz genau klar, mit wem sie es da zu tun haben.
Es sind hauptsächlich junge Männer, die den holzvertäfelten Unterrichtsraum im Keller der Jägerschule in Pfaffenhofen füllen, aber auch einige Frauen sind da. Und dazu ein paar Jugendliche, die für den Jugendjagdschein ab 16 Jahren lernen. Zilker brennt für seine Sache, die Jagd. Dynamisch und sportlich wirkt er, trotz ur-gemütlicher Jacke mit Hirschknöpfen. Er ist Polizeibeamter. Und so reagiert er mit deutlichem Verständnis auf Zwischenfragen, mag aber kein allzu langes Herumeiern: Zilker klärt, dass es ihm ernst sei, mit dem, was er sage, dass es hier um Regeln gehe, die aus gutem Grund existierten:
„Mit der Sau ist nicht zu spaßen!“
Das weiß auch der Huber Hansi. Der Jäger geht bei Göbelsbach mit seinem Jagdhund Tasso auf die Pirsch. Auch wenn sich die geheimnisumwitterte Wildsau in unseren Landen wieder heimisch fühlt, sie aufzuspüren, bleibt schwierig. Mit seinen roten Haaren und seinem verschmitzten Lächeln würde Huber problemlos als Ire durchgehen. Doch sobald er spricht, ist klar, dass hier ein waschechter Oberbayer durch die Wälder streift.
Er erzählt, wie in einem benachbarten Jagdrevier Wildschweine einen derart großen Flurschaden anrichteten, dass sich die Jäger zum Eingreifen gezwungen sahen. 24 Stunden am Tag wechselten sie sich in Schichten zu acht Stunden auf dem Hochsitz ab. Ohne Ergebnis. Keine Sau ließ sich blicken.
Und auch an diesem Winter-Nachmittag macht sich das Wildschwein rar.
Noch nicht einmal Fährten sind zu finden. Flocken fallen. Hansi Huber meint, dass die Schweine sich bei so einem Wetter einschneien lassen und in ihren Kuhlen liegen bleiben. „Die ducken sich solang, bis du fast drauftrittst.“ Es ist eine seltsame Vorstellung, dass hier im Unterholz eine gut getarnte Rotte im Versteck liegt, vielleicht nur wenige Meter entfernt.
Jagdlehrer Zilker sagt es seinen Schülern im geheizten Schulungsraum so:
„Bei der Sau ist alles anders – von der Zoologie über die Verdauung bis zu den Zähnen.“ Für die Bejagung ist vor allem die Zoologie wichtig, die besondere soziale Struktur, in der Wildschweine leben. Während die männlichen Keiler meist als Einzelgänger unterwegs sind, werden Rotten von Weibchen und Jungtieren immer von einer weiblichen Bache geführt, der Leitbache. Diese Leitbache herrscht in einem knallharten Matriarchat. Sie kontrolliert sogar den Zeitpunkt der Paarung, die Rauschzeit, in der dann alle anderen Weibchen gleichzeitig mit ihr paarungsbereit werden. Durch die synchronisierte Rauschzeit, kommen die jungen Frischlinge zur selben Zeit auf die Welt und haben so eine größere Überlebenschance.
Die besondere Rolle, die der Leitbache bei der Fortpflanzung in der Rotte zukommt, gilt es auch bei der Bejagung zu beachten, wie Reinhold Zilker erklärt. Wird eine Leitbache getötet, ist damit auch die Regelung der Fortpflanzung ausgesetzt und die Weibchen einer Rotte verfallen in ein sogenanntes Rauschchaos und paaren sich unkontrolliert, was bewirkt, dass die Population ungehindert zunimmt. Die Folge sind Flurschäden, wie sie eine Bejagung ja eigentlich eindämmen soll.
Meistens bekommt man von der Wildsau auch nur diese Flurschäden zu sehen. Die längste Zeit ruhen die Tiere und auch sonst haben sie ein Talent dafür, unsichtbar zu bleiben. Reinhold Zilker bündelt den Stoff dieser Unterrichtsstunde in einer einprägsamen Jäger-Weisheit. Er sagt: „A Gams musst dir dergehn. A Sau musst dir dersitzn.“
Bei der Pirsch durch die winterliche Gegend um Göbelsbach finden sich zwar keine Fährten, geschweige denn eine echte Sau, doch Wühlspuren verraten ihre Nähe. Hansi Huber geht zu einem Wildacker, auf dem der Mais für die Wildtiere stehen gelassen wurde. Hier haben die Wildschweine den Boden auf der Suche nach Regenwürmern und anderem essbaren Getier aufgebrochen. Auch für Jäger Huber ist das Wildschwein ein ganz besonderes Tier. Er erzählt, wie bei einer Drückjagd im vorhergehenden Jahr neun Schweine erlegt wurden. Huber legt Wert darauf, dass bei dieser Jagd gerade einmal zwölf Schüsse abgegeben wurden. Das Feindbild vom schießwütigen Loden-Rambo bedienen die Göbelsbacher Jäger nicht.
Dazu passt es, dass Hansi Huber fast schon grantig wird, wenn er hört, dass Wildschweine als Problemwild bezeichnet werden. „Die Wildsau kann doch nichts dafür, wenn für sie ideale Bedingungen herrschen.“
Es gibt für ihn andere Möglichkeiten als die rigorose Bejagung, um die Tiere von den Feldern und Äckern fernzuhalten und sie in den Wald zu drängen. „Da helfen Fütterungsstellen im Wald, wenn die Tiere zu wenig Eicheln und Bucheckern zum Fressen finden. Oder wir verzichten ganz auf die Bejagung im Wald und schießen die Sau nur draußen auf den Feldern.“
Aber auch das Füttern im Wald ist umstritten. Die Hege, also die menschliche Pflege der Tiere, bezeichnet die Gruppe der sogenannten Öko-Jäger als Massentierhaltung im Wald. Die Populationen würden zu groß, beklagen sie, und die Verjüngung des Waldes werde durch den Verbiss der Jungtriebe unterbunden. Nur durch eine massive Bejagung könne man natürliche Verhältnisse herstellen und so das ungestörte Wachstum der Pflanzen sichern.
Hansi Huber ist nicht nur Jäger, sondern auch Waldbauer. Ihm ist also wichtig, dass Pflanzen und Wild genug zum Leben haben. Und dazu gehört für ihn auch, dass die Tiere eine faire Chance vom Jäger bekommen. So wie damals in der klaren Vollmondnacht, als er mal wieder auf dem Hochsitz war. Im hellen Mondlicht zeichnete sich am Waldrand ein klarer Schatten ab. Und der schwarze Schattenfleck schnaubte plötzlich: ohne Zweifel ein Wildschwein.
Wäre das Tier jetzt hinaus ins Licht getreten, hätte der Hansi Huber abgedrückt.
Unter idealen Schussbedingungen. Aber die Sau war zu schlau und blieb schön im Dunkeln, um nach einer Zeit wieder im Wald zu verschwinden.
Hansi Huber nahm diese Begegnung sportlich, so wie er auch jetzt nicht enttäuscht wirkt, als klar ist, dass der heutige Waldspaziergang ohne Begegnung mit der Wildsau endet.