Judo

Text und Fotos: Richard Kienberger


Wie schaut die Zukunft aus? Was wird aus mir werden? Werden wir diese schwierige Zeit eines Tages vergessen haben?


Es sind ja die existenziellen Fragen, die sich in den endlos langen Pandemiemonaten immer wieder unbarmherzig in den Vordergrund gedrängt haben. Sicherlich beschäftigen wir uns auch in „normalen“ Zeiten damit, aber solange wir gesund sind und das Vergehen der Zeit einigermaßen so verläuft, wie wir uns das erhoffen, lassen sich diese Fragen bei Bedarf nach kurzem Grübeln wieder beiseite legen. Jetzt, nach mehr als einem Jahr, in dem das Leben Tag für Tag von Lockdowns, Infiziertenzahlen, Inzidenzen, einer gewaltigen medialen Aufgeregtheit und vielen privaten oder öffentlichen Diskussionen geprägt wurde, gelingt das nicht mehr so leicht. Egal ob es beim Sinnieren um den Verlust des Arbeitsplatzes, drohende Insolvenz, die Sorge um abgeriegelte Senioren oder um einen Schulabschluss geht, der zukünftig vielleicht ebenso mit der üblen Nachrede bedacht wird wie das Notabitur der Kriegsgeneration: Ging ja nicht anders, aber ist gar nicht zu vergleichen mit dem „richtigen“. Doch dann kommen diese beiden Schülerinnen in die Turnhalle, voller Optimismus und Tatendrang und zögern auf die Frage nach ihrem Ziel nicht eine Zehntelsekunde lang:



„Wir wollen Olympiasiegerinnen werden.“


Wir, das sind Odalis Santiago und Nadja Kneilling. Beide 14 Jahre und fast wortwörtlich „gleichaltrig“ (sie haben im Abstand von drei Tagen Geburtstag), Kaderathletinnen und schon „Aushängeschilder“ der Judoabteilung des FC Schweitenkirchen. Klar, wer kann mit 14 Jahren schon sicher sagen, ob es angesichts der vielen Faktoren, die darauf Einfluss haben, dereinst zu einem Olympiasieg reichen wird. Santiago und Kneilling sind klug genug, das zu wissen. Aber es ist ihr Traum und ihr Ziel, so wie ein Bergsteiger vielleicht darauf hinarbeitet, einmal einen Achttausender zu besteigen.
Vermutlich ist es unerlässlich, groß zu denken, um sich immer wieder neu zu motivieren, im Training zu quälen und jahre- oder sogar jahrzehntelang auf den ersehnten Moment hinzuarbeiten.



„Die beiden dürfen seit Juni 2020 und damit auch während des
zweiten Lockdowns im kleinen Rahmen trainieren, weil sie Profis gleichgestellt sind.“


Erklärt ihr Trainer Franz Dausch. Wichtige Voraussetzung dafür war natürlich ein Hygienekonzept, das erstaunlicherweise nicht vom Dachverband DJB (Deutscher Judobund) entwickelt wurde, auch vom bayerischen Pendant BJV gibt es nur Empfehlungen. „Eigentlich liegt das in der Verantwortung der Vereine. Der FC Schweitenkirchen hat das den jeweiligen Abteilungsleitern überlassen mit der Begründung, dass die am besten wüssten, was in der jeweiligen Sportart passiert, und andererseits, was von den diversen Dachverbänden empfohlen oder vorgegeben werde“, sagt Dausch. Sein Glück: In der Judoabteilung des FCS haben sie eine Fachfrau als Mitglied. Die ist ausgebildete Hygienemeisteirn, arbeitet in der Altenpflege und half dem Abteilungsleiter und Trainer bei der Ausarbeitung eines Konzepts, mit dem die jungen Sportlerinnen und ihre Betreuer geschützt werden sollen. Normalerweise besuchen Santiago und Kneilling das Sportgymnasium in München, auch dort wurde pandemiebedingt auf Online-Unterricht umgestellt. In der Kaderschmiede dient, wie in vielen anderen Einrichtungen, das Microsoft-Programm Teams als Basis für die virtuellen Schulstunden. Die Frage, wie das denn mit den Prüfungen sei in der digitalen Schule, da könnten ja Lehrerinnen und Lehrer das, was bei ihnen „Unterschleif“ und bei Schülern „spicken“ heißt, wohl kaum kontrollieren, zeugt wohl von einer gewaltigen Naivität des Fragestellers.


Kampfbereit: Die Kaderathletinnen des FC Schweitenkirchen freuen sich auf das Ende der Einschränkungen. In der Kampfsportart Judo sind Übungskämpfe mit möglichst vielen Gegnern essenziell.



Die beiden Judoka begnügen sich mit einem Grinsen als Antwort.
O. K., kapiert. Schnell zurück auf die Judomatte. Acht bis neun Trainingseinheiten absolvieren die Teenager wöchentlich, drei am Morgen, den Rest abends. Üblicherweise trainieren Judoka, die wie Kneilling und Santiago Kaderathleten sind, nach Rahmen-
Trainingsplänen des Verbandes, die Raum für individuelle Adaptionen lassen. Weil diese Vorlagen natürlich nicht für das Training unter
Pandemiebedingungen geschrieben wurden, muss Franz Dausch die Inhalte entsprechend anpassen. Zwei bis vier Trainingspläne pro Monat und Mädchen schreibt er ungefähr und orientiert sich dabei soweit möglich an den ursprünglichen Vorgaben. Bei Kampfsportarten wie Judo (siehe Kasten) beschränkt sich die „Wettkampfpraxis“ nicht auf Meisterschaften oder Turniere, sondern ist eigentlich in jedem Training enthalten, sofern man nicht nur indi­viduell bestimmte Details einübt. Randori heißt das in der Judo-

Sprache, es ist ein Übungskampf mit wechselnden Partnern oder
Partnerinnen, teilweise mit spezifischen Vorgaben und mit großer Bandbreite zwischen spielerisch und Fast-wie-im-Wettkampf. Sind möglichst viele unterschiedliche „Typen“ im Training, fördert das
die Vielseitigkeit: Man kann gegen schwerere oder leichtere Gegner kämpfen, gegen größere oder kompakte, gegen stärkere oder, weil es im Judo auch um den sozialen Aspekt geht, gegen schwächere, die dabei im Idealfall in ihrem Lernen unterstützt werden. Natürlich kämpfen im Randori auch Mädchen oder Frauen gegen Jungs oder Männer. Häufig mit offenem Ausgang, jedenfalls gibt es in Schweitenkirchen keinen ungefähr gleichaltrigen Jungen, der gegen die Kaderathletinnen eine ernsthafte Chance hätte.


LEBENSLANGES LERNEN


Judo gehört ebenso wie zum Beispiel Boxen zu den sogenannten Kampfsportarten, während Ju Jutsu, Karate oder Taekwondo vom Prinzip her Selbstverteidigungsdisziplinen sind (auch wenn es dort seit vielen Jahren ebenfalls Wettkämpfe gibt). Judo wurde vor rund 140 Jahren von dem japanischen Pädagogen
Jigoro Kano entwickelt. Sein System, das Kodokan-Judo, basiert auf den traditionellen „Ritterkünsten“ (Budo), war aber nicht zur Selbstverteidigung gedacht und enthält deshalb für den „Alltagsgebrauch“ auch keine Schläge, Tritte oder potenziell tödliche Techniken. Diese werden nur in Katas geübt, natürlich ohne die jeweiligen Partner zu verletzen. Kata lässt sich mit „Form“ übersetzen, Katas beinhalten jeweils eine Reihe von Techniken, die in vorgeschriebenen Bewegungsabläufen ausgeführt werden müssen. Einige wenige Judoka haben sich darauf spezialisiert, aber meist werden die stark ritualisierten Formen nur für Gürtel­prüfungen, bei denen sie gezeigt werden müssen, einstudiert.



Kano ging es bei der Schaffung der neuen Sportart um die geistige Erziehung und ethische Werte wie das „gegenseitige Lernen“. Was auch durch den Wortteil „do“ – japanisch für Weg – verdeutlicht werden sollte. „Weg“ war für Kano gleichbedeutend mit immerwährendem Weiter-Gehen oder lebenslangem Lernen. Diese Aspekte, die stark auf der formalistischen japanischen Etikette und Philosophie basieren, spielen im modernen Judo de facto nur noch eine untergeordnete Rolle. Geblieben sind dagegen Aspekte wie Höflichkeit, Rücksichtnahme und Fairness sowie die Vorgabe, den Gegner im Wettkampf nicht auszuknocken, sondern mit erlaubten Mitteln zu besiegen. Wie in Kampfsportarten üblich, treten Judoka bei Meisterschaften, Turnieren oder im Ligabetrieb in unterschiedlichen Gewichtsklassen gegeneinander an. Gewonnen hat, wer Gegner oder Gegnerin mit einer perfekten (oder mehreren halbwegs perfekten) Standtechnik (Würfe) auf die Matte befördert beziehungsweise im Bodenkampf mit Haltegriff, Hebel oder Würgegriff besiegt oder zur Aufgabe gezwungen hat.


Trainer und Abteilungsleiter Franz Dausch hat für seine Top-Athletinnen während der Pandemie spezielle Trainingsprogramme zusammengestellt.



Dieser wichtige Trainingsbestandteil fehlt derzeit größtenteils, die letzten Meisterschaften, auf de­nen Santiago und Kneilling kämpf­ten, fanden im Spätherbst 2019 statt. Die letzten Titel, die sie gewannen: jeweils Süddeutsche Vizemeisterin. Im vergangenen Winter konnten die beiden Athletinnen des FCS wenigstens gelegentlich im Leistungszentrum Abensberg mit anderen Judoka üben. Wer überhaupt noch trainieren durfte, beschränkte sich dabei größtenteils auf die Bereiche Athletik, Technik und Technik-Taktik. Und sollte dabei nicht ins Schwitzen kommen, so steht es jedenfalls in den einschlägigen Vorschriften der Pandemiebekämpfung. Ist das monatelange Fehlen des Wettkampf-Elements ein großer Nachteil für die beiden jungen Kämpferinnen auf ihrem langen Weg zum Olympiasieg? „In Deutschland“, meint Franz Dausch, „nicht unbedingt.

Da sind die Bedingungen größtenteils gleich für alle, nur Nordrhein-Westfalen fährt einen anderen Kurs. Aber auf internationaler Ebene schaut das anders aus, da gibt es einige Länder, die ihren Sportlern mehr Freiheiten zugestehen. Diesen Nachteil müssen die beiden möglichst aufholen, wenn wieder ein reguläres Training möglich ist.“ Dausch betreut ja nicht nur seine beiden jungen Top-Athletinnen, sondern auch eine Bayernligamannschaft. Bei diesen Kämpferinnen greift keine Ausnahmeregelung, sie waren während der pandemiebedingten Restriktionen auf sich alleine gestellt. Recht viel mehr, als an der allgemeinen Fitness zu arbeiten, konnten die FCS-Damen nicht tun. Der Ligabetrieb, sagt der Trainer und Abteilungsleiter, werde erst drei Monate nach dem Ende aller Einschränkungen wieder aufgenommen, wann immer das ist:


„Der Verband will seine Athletinnen schützen und mit der Wartezeit
sicherstellen, dass auch die Amateure wieder in Form kommen, ehe sie in den Ligen unter Wettkampfbedingungen kämpfen.“


Training nimmt einen wichtigen Stellenwert ein im Leben der beiden Teenager. Trotzdem leiden sie natürlich wie viele Jugendliche unter der globalen Seuche: Freundinnen und Freunde treffen, Geburtstage feiern, ein Schwatz auf dem Pausenhof, alles unmöglich. Auch wenn man, wie in dem Alter üblich, auf vielen Social-Media-Kanälen unterwegs ist, kann der Bildschirm keine Umarmung und keine fröhliche Geburtstagsparty ersetzen. Darüber hinaus kommen viele Freunde aus dem Sport und trainieren wie das Duo in Großhadern. Auch dieser Kreis ist im Moment für Live-Begegnungen nicht verfügbar. Das Publikum blendet ja gerne aus, was Leistungssport eigentlich bedeutet. Es ist jedenfalls kein „normales“ Leben, das Olympiasieger oder Weltmeister führen. Leistungssport beginnt in den allermeisten Fällen schon in jungen Jahren und bedeutet auch ohne die speziellen Bedingungen aufgrund einer Pandemie vor allem: Verzicht. Im wohlhabenden Teil Europas ist das Motiv, mit einer Karriere im Sport einen Weg aus der Armut zu finden oder sozial aufzusteigen, kaum mehr von Bedeutung. Es geht also um Leidenschaft. Santiago und Kneilling betreiben ihren Sport seit sieben (Santiago) beziehungsweise acht Jahren (Kneilling). Weil sie Spaß dabei hatten, schnell gemerkt haben, dass sie im Judo überdurchschnittlich gut sind und zudem offenbar die nötige Grundstruktur besitzen, um für diese Leidenschaft zu brennen, wurde der Sport zum bestimmenden Faktor in ihrem Leben. Was auch in jungen Jahren bedeutet, Verantwortung für sich zu übernehmen. Früher als viele Gleichaltrige wichtige Entscheidungen zu treffen. Bewusst auf einen Teil der Jugend zu verzichten, um im Sport weiterzukommen. 


Judo ist ein komplexer Sport, der sich Außenstehenden nicht auf Anhieb erschließt:



Sieht man zwei ungefähr gleich starke Judoka im Wettkampf oder im Randori, braucht es einen fachkundigen Blick um festzustellen, wer am Ende den entscheidenden Vorteil haben könnte. Nicht viel anders ist es beim Techniktraining von Santiago und Kneilling: Für Nicht-Judoka sieht es wahlweise geschickt, geschmeidig, trickreich oder komplex aus, wenn die jungen Athletinnen Wurftechniken üben und sich gegenseitig viele Dutzend Mal auf die Matte befördern. Trainer Dausch achtet auf die Feinheiten, korrigiert, wenn ein Griff nicht optimal angesetzt ist, und verteilt neue Aufgaben, sobald eine Technik sitzt. Aber er weiß auch, dass das Spielerische bei einem reinen Techniktraining auf die Dauer zu kurz kommt, dass 14-Jährige Spaß haben wollen und ihren natürlichen Bewegungsdrang ausleben müssen. Für Traditionalisten war das lange Zeit undenkbar, doch inzwischen gehören Übungen aus anderen Disziplinen – vor allem aus dem Bereich Akrobatik oder Turnen – in vielen Sportarten, in denen die Koordinationsfähigkeit eine wichtige Rolle spielt, zum Standardrepertoire. Jetzt braucht es keine Fachkenntnisse mehr, um zu erkennen, dass das, was Kneilling und Santiago zum Abschluss ihres Trainingsabends noch aufführen, für Judoka, die so lange wie nur irgend möglich mit ihren Beinen fest auf der Matte stehen müssen, ziemlich erstaunlich ist: Die beiden Teenager toben sich beim Bodenturnen aus. Scheinbar mühelos fliegen sie durch die Luft. Salto, Schraube und Flickflack gehen ihnen so locker von der Hand wie zuvor die Judo-Würfe. Schon erstaunlich, was man alles lernen und können muss, um dereinst Olympiasiegerin zu werden.


KONSTANT ERFOLGREICH


Die Judoabteilung des FC Schweitenkirchen wurde im Frühjahr 1981
gegründet. Vor fast exakt 40 Jahren, am 5. Mai 1981, fand das erste Training auf einer gebrauchten Matte statt. Gründer und Motor der neuen Sparte war über viele Jahre Herbert Possenriede, der damals seinen Wohnsitz aus der Münchener Peripherie nach Raffenstetten verlegt
hatte und inzwischen Dan-Grade (Schwarze Gürtel) in mehreren
Budo-Sportarten besitzt. Als Possenriede krankheitsbedingt 2001 überraschend ausfiel, sprang seine Tochter Sylvia ein und „rettete den Verein“, wie Franz Dausch betont, der seit 2011 in Personalunion als Trainer und Abteilungsleiter fungiert. Er war in jungen Jahren Jugend-Europameister, 1989 Weltcupgewinner, wurde 2017 Senioren-Weltmeister und kämpfte in den vielen Jahren dazwischen unter
anderem in der Bundesligamannschaft des TSV Großhadern, mit der er dreimal die Deutsche Meisterschaft gewann. Kämpferinnen und Kämpfer der Judo-Abteilung des FC Schweiten­kirchen haben in den vierzig Jahren seit der Gründung der Abteilung eine Unmenge an Titeln gewonnen, sowohl auf allen nationalen Ebenen als auch auf internationalen Turnieren und Meisterschaften. Die Damen-Bayernliga-Mannschaft des Vereins besteht seit 1992, in der zweiten Hälfte der 1990er-Jahre war die damalige Besetzung sogar in der zweiten Bundesliga vertreten.