Was für eine Lebenslinie:
Von Dürnzhausen über Hallbergmoos, Island, Brasilien und Stuttgart zurück in das Vorkriegsdeutschland und das Warschauer Ghetto.

Verknotete Fäden, die um die halbe Welt führen, viele der großen Themen des 20. Jahrhunderts berühren und von einer Familie gehalten werden, die schon hundert Jahre, ehe der Begriff en vogue wurde, Patchwork war und sich an ihren Rändern zerfranste.

Nach einer Stunde bei Tita Heydecker fragt man sich, ob eigentlich noch nie ein Regisseur bei ihr vorstellig wurde, um die Familiengeschichte dieser schmalen Frau in einer Fernsehserie nachzuerzählen. Stoff gäbe es mehr als genug dafür. Sie erzählt das alles ganz unaufgeregt, bescheiden und hat auch nichts dagegen, wenn sich die vielen Fragen nicht nur um sie und ihre Kunst drehen, sondern auch um ihren Vater Joe J. Heydecker und das, was sie miteinander verbindet.



Eine Verbindung, die Mitte der 50er-Jahre beginnt: Da kommt die Künstlerin in Stuttgart auf die Welt. „Zufällig“, wie sie betont: Ihre Mutter ist auf Reisen, als sich das Kind ankündigt. Vielleicht beginnt schon in diesem Moment die Heimatlosigkeit Tita Heydeckers, die von sich behauptet, keinen Ort zu haben, der ihr Heimat ist: „Ich verbinde den Begriff nur mit Menschen und Sprache, aber ich fühle mich nicht an einen bestimmten Ort gebunden.“ Ihr Vater ist zu der Zeit ungefähr zehn Jahre lang aus dem Krieg zurück, den er im Unterschied zu vielen seiner Landsleute wohl vom ersten Tag an nicht gemocht hat. Der 1916 in Nürnberg geborene Heydecker hatte eine Fotografenlehre absolviert. Als er eingezogen wird, steckt er seine Kamera ins Gepäck, wird später einer Propagandaeinheit zugeteilt und fotografiert während seiner gesamten Militärzeit. Er versteht sich nicht als Fotokünstler, sondern als nüchterner Chronist, dessen Bilder zunächst wie ein lässiges Tagebuch in Schwarz-Weiß anmuten, um immer mehr zu einer Dokumentation des Grauens zu werden. Ein geschriebenes Tagebuch hat Heydecker ebenfalls
geführt – das war den Landsern eigentlich verboten. In chronologischer Reihenfolge zeigen die Fotos in beeindruckender und bedrückender Weise, wie sich der Krieg verändert: Die Bilder aus Frankreich wirken stellenweise heiter, einige Motive könnten auch auf einem harmlosen Manöver entstanden sein. Später, als der Soldat nach Polen und Russland abkommandiert wird, hält er fest, was seine Propaganda-Auftraggeber mit Sicherheit nicht sehen wollen. Ausgemergelte, leere Gesichter, in denen nicht die leiseste Spur von Hoffnung zu sehen ist. Dreck, Särge und Gräberfelder. Man wüsste gerne, was Titas Vater letztlich dazu bewog, sein Leben zu riskieren und in das Warschauer Ghetto zu gehen, um dort zu fotografieren. Es sind die einzigen Aufnahmen aus der Todeszone, die nicht von der NS-Propagandamaschine ausgespuckt wurden, und sie halten für die Ewigkeit fest, was dort vor sich ging: die erbarmungslose, zynische Vernichtung von Menschen. Nach dem Aufstand der Ghettobewohner und deren Vernichtung im Sommer 1944 werden die Gebäude innerhalb des ummauerten Stadtteils größtenteils zerstört. Joe J. Heydecker begibt sich später ein zweites Mal ins Ghetto, angeblich weil ein Kommandeur, ein Alkoholiker, einem Stoßtrupp befohlen hatte, in den Ruinenkellern nach Wodka zu suchen (so steht es in einem Buch). Eine Szene, die an surreale Episoden in dem Film Apokalypse Now erinnert. Die Welt geht unter, doch bis es so weit ist, richtet sich ein süchtiger Landser in seinem Absurdistan ein. Das Areal, das die Handvoll Soldaten durchstreift, ist eine Ruinenstadt ohne Leben. Heydecker fotografiert das monströse Zerstörungswerk: die demolierten Häuser, Gräber von getöteten Zivilisten, die auf Gehwegen bestattet wurden, als es noch jemand gab, der die Toten eingrub, ausgebrannte Trambahnen und von einem Trümmerteppich bedeckte Straßen. Es sind Szenen, die die Fähigkeit zu verstehen auf eine harte Probe stellen.

DAS GRAUSAME GESICHT DES KRIEGES//
AUSGEMERGELTE, LEERE GESICHTER, DRECK, SÄRGE UND GRÄBERFELDER.

Nach dem Krieg wird der frühere Soldat zum Reporter und berichtet unter anderem von den Nürnberger Kriegsverbrecherprozessen. Und im Gegensatz zu anderen Soldaten, die ihre Fronterlebnisse nie verarbeiten konnten – viele, weil sie erst gar nicht den Versuch unternahmen – verfällt Heydecker nach dem Krieg nicht in jenes dumpfe Schweigen, das Deutschland jahrzehntelang in den Nebel hüllt, der aus Verdrängung, Scham und Ignoranz aufstieg. „Geschichte war in unserer Familie immer ein Thema. Mein Vater hat oft über seine Erlebnisse gesprochen und später sogar eine Autobiografie geschrieben“, erinnert sich Tita Heydecker. Ein Grund dafür sei sicher gewesen, dass er nie zum Mittäter geworden ist und einer Familie entstammt, die das Regime nicht mag. Anderseits will die Tochter nicht definieren, inwieweit die grauenvollen Erlebnisse ihren Vater geprägt oder verändert haben. Sie belässt es bei einem kurzen Satz: „Krieg hat immer eine Auswirkung.“

Der Mief der Adenauer-Jahre, das politische Klima und die Wiederbewaffnung Deutschlands führen dazu, dass Joe J. Heydecker die Heimat „zuwider wird“. Er beschließt, Neues zu wagen, auszuwandern und schifft sich 1960 mit seiner zweiten Frau nach Brasilien ein. Ein Land, in dem sich nach dem Krieg viele Kriegsverbrecher versteckt hatten. Und das Land, in das sein Halbbruder, der durch einen Elternteil jüdischer Abstammung war, kurz vor Kriegsbeginn mit dem allerletzten Rotkreuz-Transportschiff gekommen war. Tita Heydecker betrachtet Brasilien als das Land, in dem sie aufwuchs: unter Künstlern, vielen ausgewanderten Juden, philosophisch interessierten Menschen, die zum Freundeskreis der Familie gehören, und mit einer für damalige Verhältnisse sehr emanzipierten Mutter. Vater Heydecker arbeitet freiberuflich als Reporter (unter anderem für deutsche Zeitungen oder Magazine), außerdem macht er sich als Werbefotograf einen Namen und erhält von den brasilianischen Niederlassungen großer deutscher Firmen wie VW oder Siemens Aufträge. Seine Frau, ebenfalls Fotografin, ist zugleich seine
Geschäftspartnerin, die sich um das Studio kümmert. Schon als Kind spürt Tita Heydecker, dass die Familie in einem Spannungsfeld lebt, vor
allem wegen der freigeistigen Mutter, die so ganz anders ist als die
Brasilianerinnen.

„BRASILIEN“, ERZÄHLT DIE KÜNSTLERIN, „HAT MICH FÜR MEIN GANZES LEBEN GEPRÄGT.“



,,Ich ging dort zur Schule, lernte schnell die Sprache, weil meine Kinderfreunde ja Einheimische waren.“ Aber das Nachdenken über das, was sie dort erlebt habe, sei erst viel später passiert. Zunächst kämpft die heranwachsende Tita mit den Problemen, die das Erwachsenwerden überall auf der Welt begleiten: Reibereien mit Vater und Mutter, ein diffuser Drang nach Freiheit und der schier übermächtige Wunsch, eine möglichst große Distanz zwischen sich und die Eltern zu legen und endlich selbst über das eigene Leben zu bestimmen. Die Distanz: In Heydeckers Fall ist das ein Ozean und ein halber Kontinent. Mit 16 Jahren setzt sie ihren Willen durch und verlässt die Eltern, geht zurück nach Deutschland. Die einzige Bedingung: Sie soll eine Ausbildung machen. Für die Eltern spricht, dass sie ihr Kind trotzdem „immer unterstützten“. Während die Tochter um ihre Freiheit kämpft, versucht ihr Vater immer wieder vergeblich, in Deutschland einen Verlag zu finden, der seine Fotos veröffentlicht. „Doch das wollte damals niemand sehen.“ In der neuen Heimat – die paradoxerweise seit 1964 von einem Militärregime diktatorisch regiert wird – hat der Fotograf mehr Glück. Er findet in São Paulo einen Galeristen, der die Ghetto-Bilder ausstellt. Gemeinsam veröffentlichen sie als Katalog ein Buch mit einem Titel, der auch nach fast einem halben Jahrhundert nichts von seiner schlichten Schönheit und Tiefe verloren hat: „Kain, wo ist dein Bruder?“

Von 1973 bis 1976 löst Tita Heydecker das Versprechen ein, das sie ihren Eltern gegeben hat, besucht in
München die Akademie für das grafische Gewerbe und lässt sich dort zur Grafik-Designerin ausbilden. Dann fühlt sie sich endlich frei.

Rund fünf Jahre lang wird die Grafikerin zur Weltenbummlerin. Malt. Schnitzt. Zeichnet. „Irgendwann konnte ich davon leben.“ Das ist bis heute so geblieben. Anfang der 80er-Jahre kehrt ihr Vater, der sich inzwischen von Titas Mutter getrennt hat, mit einer neuen Partnerin (die später sein fotografisches Erbe sortieren und sichern sollte) nach Europa zurück: „Nach Deutschland wollten sie nicht, daher gingen sie nach Wien.“

SEHNSUCHTSORT//
„ICH BIN ISLAND SOFORT VERFALLEN.“

Erzählungen des Vaters lassen in Tita Heydecker eine fantastische Vorstellung von Island entstehen. 1989 fliegen sie schließlich gemeinsam auf die Insel, die zu ihrem Sehnsuchtsland geworden war. „Ich bin Island sofort verfallen“, schwärmt Heydecker. Sie kommt wieder. 1990 mit ihrem Partner Konrad, mit dem sie bereits einige Jahre zusammen ist. 1991 allein, um länger zu bleiben. „Für ein halbes Jahr, das war der Plan. Es sind dann zwei Jahre geworden.“ In denen sie in Akureyri im sperrigen Norden der Insel als Künstlerin arbeitet, was sonst. Konrad hütet daheim das Haus.



Wenn Tita Heydecker versucht zu skizzieren, was sie als Künstlerin ausmacht, lässt sich auch die Faszination für Island nachvollziehen. Es ist eine karge, herbe Landschaft mit wenigen Bäumen und selbst in den Bergen scheint es für die Gedanken keinen Halt zu geben. Sie fließen in die isländischen Flüsse, stürzen mit Wasserfällen in die Tiefe oder werden von den Elfen, die es auf der Vulkaninsel gibt, aufgesammelt, begutachtet und abgelegt. Für eine Weile oder für immer. Im menschenleeren Norden ist das Gefühl, einsam am stürmischen, rätselhaften Rand der Welt zu leben, noch viel stärker als im Süden der Insel. Akureyri ist die viertgrößte Stadt Islands – mit gerade einmal knapp 19.000 Einwohnern. Der Mensch ist hier auf sich zurückgeworfen, es gibt unendlich viel Raum zum Grübeln. Also geradezu ideal für Charaktere wie Heydecker, die gerne „in die Tiefe geht. Die Sachen, die das Auge sieht, sind meist nicht vollständig, sondern vielschichtiger. Ich versuche zu ergründen, was noch da ist.“ Die Künstlerin konzediert, dass diese Suche subjektiv ist, dass jeder Mensch, der sich darum bemüht, andere Schichten wie sie selbst freilegen wird.

ZUSÄTZLICHE DIMENSIONEN HINZUFÜGEN//
SEMANTISCHE KUNST

Heydecker versucht, diese Vielschichtigkeit auf die Leinwand zu übertragen, dem zweidimensionalen Bild zusätzliche Dimensionen hinzuzufügen. Seit 2005 wird diese Stilrichtung als Semantische Kunst bezeichnet. „Es soll eine Verknotung von Bedeutung entstehen. Nur ein Abbild zu machen, ist nicht mehr zeitgemäß. Ich denke, in einem Bild sollte sichtbar werden, dass wir heute mehr Wissen haben als unsere Vorfahren. Wir haben heute einen anderen Zugang zu vielen Dingen. Für mich geht es bei einem Bild um die Frage, wie ich auf diesem platten Ding etwas machen kann, das einen neuen Dreh reinbringt und relevant ist und von mehreren Menschen verstanden wird.“ Dieses Abtasten von Möglichkeiten, darüber ist sich Heydecker auch klar, führt nicht zu gefälligen Kunstwerken, die sich viele Menschen gerne in ihr Wohnzimmer hängen würden. „Meine Bilder sind von den Inhalten her sehr wuchtig, sie brauchen Raum, vielleicht auch öffentlichen Raum.“ Sie tippt darauf, dass ihre Malerei vor allem Menschen anspricht, die sich mit Psychoanalyse beschäftigen – da versucht man ja ebenfalls, Dingen auf den Grund zu gehen. Anders ausgedrückt: „Man macht und während des Tuns sieht man, was man alles gemacht hat. Dann beginnt man zu reflektieren.“

VON EXPLODIERENDEN FARBEN
ZU GRAU ALS GRUNDFARBE

In älteren Bildern Heydeckers explodierten die Farben – eine Prägung durch das Aufwachsen im farbenfrohen Lateinamerika? „Die Farben sind einfach meine Persönlichkeit“, sagt sie. Um dann, als hätte sie kurz in sich hineingehorcht, leise nachzuschieben, seit etwa vier Jahren arbeite sie ja sehr reduziert mit Grau als Grundfarbe. „Vermutlich finde ich nicht
mehr zurück zu dieser Farbigkeit.“ Manche Menschen kommen im Alter zur Ruhe, für Tita Heydecker waren die letzten Jahre eine Zeit großer Umbrüche. Zunächst pflegt sie ab 2013 ein Jahr lang ihre schwer kranke Mutter bis zu deren Tod, anschließend ihren Mann Konrad, der nach seiner Krebsdiagnose ebenfalls nur noch rund ein Jahr lebt.Die beiden wohnten über dreißig Jahre lang in Hallbergmoos, doch nach Konrads Tod beschließt die Malerin, in das Haus in Dürnzhausen umzuziehen, das er ihr hinterlassen hat. Aber „ich habe unterschätzt, wie schwer das ist, nach dreißig Jahren das gewohnte Umfeld zu verlassen. Im Alter ist es viel schwieriger, neue Freundschaften zu schließen, weil die gemeinsamen Erfahrungen einer langjährigen Freundschaft nicht mehr aufzuholen sind.“ Zudem ist die Künstlerin kein extrovertierter Charakter, der sich gerne auf Partys und Vernissagen und Events herumtreibt und dort Leute anspricht. Wenn man so will, ist Dürnzhausen auf seine Art noch abgelegener wie Akureyri. Als 60-Jährige macht Heydecker daher noch den deutschen Führerschein – sie hat nur einen alten isländischen – um wenigstens einigermaßen mobil zu sein. Aber eine Leidenschaft wird das Auto­fahren für sie nicht mehr. Die große Kreisstadt ist weit.

Still ist es in dem eingeschossigen Haus am Ortsrand von Dürnzhausen. Der Blick geht hinaus auf alte Bäume, Sträucher, die hügeligen Felder,
in denen dunkelgrünes Wintergetreide den zahnlosen Winter verspottet. In dem Raum, der Heydecker als Atelier dient, steht eine kalkweiße Leinwand auf der Staffelei. Sie wartet. Auf die Farben, die im Regal stehen, oder die Grautöne. Tita Heydecker wartet darauf, dass sie wieder ganz zu sich findet. Dass die Trauer und die Veränderungen nicht mehr wie ein Block zwischen ihr und der Leinwand stehen.

VIELE EBENEN FÜLLEN DEN RAUM,
UND ALLE SIND AUF DEN ERSTEN BLICK SICHTBAR.