Die verschwundene Metropole
Text: Frieder Leipold | Fotos: Richard Kienberger
Im Osten von Manching, zwischen den Startbahnen der EADS, befindet sich ein Aussichtspunkt. Gleich in der Nähe, wo das militärische Sperrgebiet endet, lag vor langer Zeit das östliche Tor einer Keltenstadt. Fernab im Westen, auf der anderen Seite der Ebene, zeigt sich der Kirchturm Manchings. Er markiert die Stelle, an der einst das gegenüberliegende Tor aufragte. Der Blick schweift weit, verdeutlicht, welche Ausmaße diese Stadt der Eisenzeit hatte. Damals, als die Siedlungen meist nur ein paar Gebäude auf einer Rodung im Wald umfassten,
existierte hier eine Metropole der Antike.
Heute können wir uns nur mit viel Fantasie vorstellen, wie sich ein Händler vor über 2.000 Jahren gefühlt haben mag, als er nach langer Reise auf der Donau diese Stadt erblickte. Vorbei an den Eisenschmelzen vor der Stadtmauer fuhr er in den Hafen ein, wo andere Handelsschiffe vertäut waren. Er sah auch die Boote der einheimischen Donaufischer, die ihren täglichen Fang an Land brachten. Endlich festen Boden unter den Füßen führte ihn ein Straßennetz von systematischer Strenge hinein in den Stadtkern. Unser Händler marschierte vorbei an Läden, in denen es Glasschmuck gab, vorbei an einem Metzger, der gerade das Fleisch eines geschlachteten Hundes auslöste, vorbei am großen Gehöft eines Schmieds, der das Manchinger Geld prägte.
Für den weit gereisten Kaufmann war die Währung der Manchinger bedeutungslos, weil er seine Barschaft als Goldmünzen bei sich trug. Gold galt überall. Nur auf die Manchinger Geldfälscher durfte er nicht hereinfallen, überzogen sie doch billigere Metallmünzen mit einer dünnen goldenen Haut. Wieso also nicht gleich ein Tauschhandel? Für seine Ladung südfranzösischen Weins bekam er von einem der ansässigen Kaufleute neue Sklaven: für jede Amphore einen Menschen, so der damals gängige Wechselkurs.
So mag es gewesen sein, doch mit letzter Sicherheit ist wenig bekannt über das Leben der Kelten in Manching. Es gibt keine schriftlichen Berichte, weil die Einwohner Schrift wohl nur zur Buchhaltung nutzten und selbst von diesen Unterlagen fast nichts mehr übrig ist. Die Gebäude bestanden vor allem aus Holz, das im Lauf der Jahrtausende verrottete. Nur die in den Boden geschlagenen Pfosten hinterließen spärliche Spuren. Gräber, die bei anderen Kulturen Auskunft über die Lebensverhältnisse geben, fehlen aus der Hochzeit der Keltenstadt völlig.
Im heutigen Manching werden die Fundstücke der Ausgrabungen im „Kelten Römer Museum“ ausgestellt. Die Stücke belegen deutlich, dass Manching zum keltischen Kulturraum gehörte, der sich in der Eisenzeit von Spanien bis zu den Karpaten und von England bis Norditalien erstreckte. Kultische Gegenstände mit Mensch- und Tierdarstellungen ähneln Stücken aus anderen keltischen Gebieten wie etwa dem antiken Gallien auf dem Gebiet des heutigen Frankreichs.
Und die Stadt war damals gut vernetzt.
So dürften die Manchinger der Eisenzeit Fernhandel mit anderen Völkern getrieben haben. Forscher bargen vor Korsika ein antikes Schiffswrack aus Griechenland. Es war beladen mit Rohglas von einer Zusammensetzung, wie sie sich im Manchinger Glasschmuck der damaligen Zeit wiederfindet. Das Glas kam einst wohl aus Griechenland über Südfrankreich, die Rhône und die Donau in die Stadt. Doch der Reichtum lockte auch kriminelle Zeitgenossen an, weshalb sich viele Hausbesitzer mit primitiven Schlössern zu schützen suchten.
Um das Jahr 140 v. Chr. war die Siedlung so wohlhabend geworden, dass ihre Bewohner eine prächtige Stadtmauer für nötig hielten. Das Bauwerk zog sich ungefähr sieben Kilometer um die Stadt, die nach großzügigen Schätzungen bis zu 10.000 Einwohner beherbergte. Ihre Ausdehnung übertraf viele der anderen großen keltischen Siedlungen. Im Vergleich zu den von Cäsar beschriebenen Metropolen der Gallier wie Bibracte oder Alesia war die Keltenstadt bei Manching dreimal so groß.
Manching wuchs so schnell, weil es damals an der Kreuzung zweier wichtiger Handelswege lag.
Da war zum einen die Donau als Ost-West-Verbindung. Zum anderen ließ sich das sumpfige Moos am Ufer des Stroms nur hier in einem schmalen Korridor gut überqueren. Manching florierte am Nord-Süd-Nadelöhr. Neben friedlichen Händlern waren aber auch plündernde Heere auf diesen Straßen unterwegs. Um das Jahr 80 v. Chr. zogen Germanen unter ihrem Anführer Ariovist nach Westen. Zu eben jener Zeit scheint ein Tor in Kampfhandlungen niedergebrannt zu sein. Die Feinde erstürmten die Siedlung. Von diesem Schlag sollte sich die Stadt nicht mehr erholen. Bald schon breitete sich auch das römische Imperium mit großer Gefräßigkeit aus. Und mit einem Mal befanden sich alte Handelspartner in einer Wirtschaftszone, die von neuen Herrschern kontrolliert wurde.
Nicht mehr viel ist übrig von der quirligen Stadt, durch die unser Händler einst spazierte. Der Untergang der Kelten-Metropole schreitet voran. Verirrte sich doch noch einmal ein Kaufmann in die Stadt, was mag er gesehen haben? Nur noch vereinzelt bewohnte Höfe, nichts als Zerfall, keine Handelsschiffe mehr, wenige Übriggebliebene, die sich trotzig gegen das Unaufhaltbare stemmen. Ein alter Mann etwa, der vor seinem Haus alte Eisennägel wieder zurechthämmert. Seit der Hafen verlandet ist, kommen kaum noch Händler, und das früher in Massen importierte Eisen ist jetzt Mangelware. Wer Holz braucht, muss es sich aus den vielen leerstehenden Häusern holen; denn nach Jahrzehnten der Metall- und Glasverarbeitung sind die Wälder in der weiteren Umgebung der Siedlung gerodet.
Dass er hier kein Geschäft machen wird, merkt der Kaufmann schnell, die reichen Bewohner mit ihren Geldkassetten sind weitergezogen. Will er sich kurz erfrischen, um diesen trostlosen Ort sogleich wieder zu verlassen, wird ihm auch das kaum gelingen. Trinkwasser ist rar in der Keltenstadt, weil die Brunnenschächte vermüllt sind. Der letzte Kaufmann geht und nur der alte Mann bleibt – im Wissen, dass nichts mehr nachkommt. Als die Römer im Jahr 15 v. Chr. schließlich auch in unsere Gegend vordrangen, war die keltische Siedlung nur noch eine Geisterstadt. In den römischen Berichten taucht die einstige Großstadt nicht mehr auf.
Bis heute wurden nur sieben Prozent des ehemaligen Stadtgebiets ausgegraben,
und auch die vielen Keltenschanzen im Umland sind kaum erforscht. Es bleibt also spannend. Was bisher aber über das alte Manching zu erfahren ist, mag sich nicht recht in das gängige Bild von den Kelten einfügen, ja, steht zum Teil in direktem Gegensatz dazu. Die Kelten waren hier nicht die naturverbundenen Krieger mit magischem Geheimwissen, als die sie in esoterisch angehauchten Vorstellungen erscheinen. Vieles deutet darauf hin, dass sie vielmehr geschäftstüchtige Sklavenhändler und Ausbeuter der Umwelt waren. Auch Vermutungen, hinter der Heiligenverehrung in Bayern könnte sich die Umdeutung keltischer Gottheiten verbergen, entpuppen sich schnell als reine Gedankenspiele. Und obwohl es viele gern hätten,
der Maibaum ist keine keltische Tradition und rührt nicht vom Goldbäumchen in Manching her.
Haben die Nachfahren außer einem skrupellosen Geschäftsdenken also gar nichts gemein mit diesen Kelten der Eisenzeit? Nun ja, einige in Manching gefundene Siebgefäße deuten darauf hin, dass schon die Kelten neben dem importierten Wein ganz gerne ein Bierchen zischten. Nur dass sie sich dazu auch mal einen saftigen Hundebraten schmecken ließen.