Die Kraft der Nadeln
Text: Sophia Blank // Fotos: Richard Kienberger
Traditionelle Heilmethoden der chinesischen Medizin im modernen Kontext der Schulmedizin.
Gibt man in eine der allwissenden Internet-Suchmaschinen den Begriff „traditionell“ ein, taucht bei den Suchvorschlägen oft ganz weit oben die Kombination „Traditionelle Chinesische Medizin“ auf. Die Medizin aus Fernost gibt es offenbar nur im Zusammenhang mit dem Adjektiv, die Suche nach „Chinesischer Medizin“ allein erbringt keine vernünftigen Ergebnisse. Also immer traditionell. Das Adjektiv basiert auf dem lateinischen Wort tradere (weiter- oder hinübergeben) und bezieht sich auf etwas, das sich über einen sehr langen Zeitraum etabliert hat und fortgeführt beziehungsweise praktiziert wurde. Oft kann dieses „Etwas“ tiefe kulturelle, historische oder soziale Wurzeln haben; es wird von Generation zu Generation weitergegeben und dabei auch modifiziert.
In der Traditionellen Chinesischen Medizin, kurz TCM, bezieht sich diese Zeitschiene auf die Behandlungsmethoden, die seit mehreren Tausend Jahren entwickelt und angewendet werden und im Lauf der Zeit auch in der westlichen Kultur immer mehr Anklang fanden.
Im Westen hat sich seit der Aufklärung ein streng rationales Verständnis von Naturwissenschaft durchgesetzt, sodass ein jahrtausendealter Erfahrungsschatz, in dem nicht alles rational erklärt werden kann oder soll, nicht per se für eine wertvolle Methode gehalten wird. Der Mediziner Prof. Prof. h. c. Matthias Kunth ist aber schon, Jahrzehnte bevor fernöstliche Religionen, Meditation, Yoga oder eben TCM auch in unseren Breiten salonfähig wurden, auf den Zug in Richtung Fernost aufgesprungen. In seiner Praxis in Pfaffenhofen behandelt er seine Patientinnen und Patienten schwerpunktmäßig mit den Naturheilverfahren der Traditionellen Chinesischen Medizin, Neuraltherapie und der Therapie nach F. X. Mayr. Wichtig ist ihm dabei aber stets, wie er im Gespräch mit Quer 19+ mehrmals betonte, der komplementäre Gedanke: Es geht hier also nicht darum, die Schulmedizin „außen vor“ zu lassen, sondern diese mit dem alten Wissen aus der TCM zu ergänzen und dadurch einen ganzheitlichen medizinischen Ansatz zur Behandlung anzuwenden.
Traditionelle Chinesische Medizin
Die Traditionelle Chinesische Medizin (TCM) ist ein ganzheitliches medizinisches System, das sich über Jahrtausende entwickelt hat und seine Ursprünge im alten China hat. Das System basiert auf der Lebenskraft Qi, die durch Meridiane fließt. Alle psychologischen und physiologischen Vorgänge sind von diesem Qi abhängig. Im Gegensatz zur modernen Schulmedizin, in der ein Defekt möglichst genau lokalisiert und behandelt werden soll, nimmt die TCM eine Störung von Kraftströmen an, die unseren Organismus im Normalfall im Gleichgewicht halten. Für die Gesundheit ist laut Traditioneller Chinesischer Medizin ein Gleichgewicht beziehungsweise eine Harmonie des Gegensatzpaares Yin und Yang förderlich. Yin steht dabei für die „Schattenseite“, mit der Ruhe, Passivität und Kälte in Verbindung gebracht werden. Der Gegensatz Yang verkörpert die „Lichtseite“ und steht für Dynamik, Aktivität und Hitze. Ziel der TCM ist es, das verlorene Gleichgewicht der Kräfte im Körper wiederherzustellen, indem die fünf Säulen Akupunktur, Atem und Bewegung, Manuelle Therapie, chinesische Arzneimitteltherapie und Diätetik angewendet werden.
Bereits beim Betreten der Praxisräume wird man von einer fernöstlichen Atmosphäre umfangen. Von kunstvollen Gemälden bis zu detailreichen Skulpturen vermittelt die Einrichtung ein unverkennbar chinesisches Flair und spiegelt damit die Behandlungsweise des Arztes wider.
Matthias Kunth hat an der LMU München sein Medizinstudium absolviert und erhielt 1997 seine Approbation als Arzt. Woher seine Faszination für die alten Heilmethoden kommt, erklärt der Ehrenprofessor der Fudan Universität Shanghai Quer 19+ nur allzu gerne. Damit wir Laien das Thema auch umfassend begreifen, holt er dabei etwas aus – nicht nur bei der Schilderung seiner Laufbahn, sondern tatsächlich im wahrsten Sinne des Wortes: Matthias Kunth beschreibt eindrücklich auch mit Gestik und Mimik, wie ihn sein Weg als Arzt geprägt hat. Ein leidenschaftlicher Mediziner spricht da, dem der Beruf Berufung ist, der darin aufgeht und uns diese Begeisterung näherbringen möchte.
Woher rührt also die Passion für China? Tatsächlich reicht diese zurück bis ins Studium. Damals war Matthias Kunth zwar noch nicht klar, dass viele Antworten auf seine Fragen in Fernost liegen würden, aber eines hat ihn bereits damals während seiner Praktika in deutschen Kliniken gestört: „Immer, wenn die Schulmedizin geholfen hat, war das Verhältnis zwischen Arzt und Patient in Ordnung. Wenn die Schulmedizin aber nicht geholfen hat, dann lag es automatisch am Patienten. Oft genug hab ich damals schon gehört: ‚Der braucht doch einen Psychologen, der spinnt doch!‘ Und das ist mir suspekt vorgekommen.“ Über einen Freund wurde ihm in den 80er-Jahren dann eine Praktikumsstelle in Wuhan vermittelt – die Stadt ist spätestens seit dem Coronaausbruch weltbekannt.
„Ich habe in Wuhan ein Praktikum im HNO-Bereich gemacht. Dort hatten sie in der Zeit allerdings nicht so viel Arbeit für mich. Aber direkt daneben war die Abteilung für Akupunktur. Da hab ich mich in jeder freien Minute rübergeschlichen und zugesehen, in meinem eigentlichen Arbeitsbereich hat mich schließlich niemand vermisst“, erzählt Kunth. Interesse ist das eine, aber dass es bereits im ersten Praktikum so richtig „Klick“ machen würde, hätte der Gast aus Europa nicht erwartet.
Um die Auslandserfahrung finanzieren zu können, war der Medizinstudent zuvor am Klinikum Großhadern beschäftigt, behandelte schwerpunktmäßig Schlaganfall-Patienten. Genau diese Art von Patienten wurde in Wuhan tatsächlich mit Akupunktur behandelt und der Deutsche stellte fest: Es wirkt!
Ab diesem Zeitpunkt war die Faszination für die Nadeln geweckt. Parallel zum Medizinstudium reiste Matthias Kunth in den Semesterferien nach Fernost, eignete sich in Wuhan, Peking und Shanghai die Methoden der TCM an und begann zusätzlich, das Fachgebiet auch wissenschaftlich aufzuarbeiten. Über die Jahre hinweg entwickelten sich neben vielen wissenschaftlichen Arbeiten auch Lehrtätigkeiten an der Universität in Regensburg und in China. Matthias Kunth bildet als Dozent und Vizepräsident einer ärztlichen Ausbildungsgesellschaft für Akupunktur in Kooperation mit der Fudan Universität Shanghai regelmäßig deutsche Ärzte im A- und B-Diplom der Akupunktur aus. Dieser Arbeit und seiner Vortragstätigkeit an der Fudan Universität Shanghai ist es geschuldet, dass der Pfaffenhofener Arzt auch mit dem Titel eines Gast- und Ehrenprofessors der Medizinischen Fakultät der Fudan Universität Shanghai ausgezeichnet wurde.
In der Pfaffenhofener Praxis werden die verschiedensten Erkrankungen behandelt, hauptsächlich kümmert sich Matthias Kunth aber um Schmerz- und Wirbelsäulenbeschwerden, Allergien, Magen-Darm-Erkrankungen und das Reizdarmsyndrom. Dabei sind die Symptome der Ausdruck eines Problems, die Ursache dafür kann aber ganz woanders liegen, wie der Arzt im Gespräch betont. „Ein Ekzem an der Haut ist nur das Ergebnis von etwas – meine Aufgabe ist es, die Ursache zu ermitteln.“ Und die ist sehr häufig im Darm zu finden. Kunths Herangehensweise ist daher oftmals folgende: „Erst müssen wir die Mitte, also Schwierigkeiten im Darm, beheben.“ Der Darm und seine Bakterienflora haben eine Schlüsselfunktion für das Immunsystem, die körperliche Leistungsfähigkeit und für eine geordnete psycho-emotionale Gesundheit. „Erst wenn dort wieder ein Gleichgewicht hergestellt ist, macht es Sinn, weiterzuschauen – oft offenbart sich auch dann erst der Blick auf die zugrunde liegenden Probleme“, erklärt er und ergänzt: „Was im Darm passiert, wird über Infowege aus dem Hirn übertragen und auch andersherum. Daher kann (Anm. d. Red.: nicht „muss“) die Ursache für psychische Probleme auch ganz oft im Darm liegen. Da heißt es dann eben nicht ‚Der Patient ist blöd, der braucht einen Psychologen!‘, so wie ich das im Studium erfahren habe, sondern wir arbeiten uns schrittweise voran. Oftmals ist eine Darmsanierung schon die halbe Miete.“
Auch Krebspatientinnen und Patienten behandelt Matthias Kunth in enger Abstimmung mit onkologischen Behandlungsansätzen als ergänzende Therapie zur Schulmedizin. Hier oder auch bei Erschöpfungszuständen, zur Unterstützung des Immunsystems oder bei Entzündungen spielt die Apitherapie (Bienenheilkunde) eine große Rolle, die sich laut dem Spezialisten auch sehr gut mit der Chinesischen Medizin verbinden lässt. Schon zweimal war das Bayerische Fernsehen in der Praxis zu Gast, um über Propolis zu berichten. Propolis ist das Wunderheilmittel der Bienen und wird auch oft als „Bienenkleber“ bezeichnet. Hergestellt wird es, indem Bienen Harze von verschiedenen Pflanzen sammeln und diese im Bienenstock mit Enzymen und anderen Stoffen vermischen. Die Bienen nutzen diese Mischung, um kleine Risse und Spalten im Stock zu versiegeln und ihn vor Krankheitserregern zu schützen. In der Medizin schätzt man besonders die antimikrobiellen, antioxidativen und entzündungshemmenden Eigenschaften, die Propolis zugeschrieben werden. Es kann dadurch nicht nur Tumorzellen ausschalten, sondern hilft auch Leber und Nieren bei der Entgiftung. Mit Fachvorträgen rund um die Bienenheilkunde war Matthias Kunth im gesamten deutschsprachigen Raum unterwegs. „Über zehn Jahre lang habe ich an jedem Wochenende Vorträge gehalten und die Infos rund um Propolis ‚ins Volk getragen‘. In der Presse wird Kunth daher oftmals als Deutschlands berühmtester Apimediziner bezeichnet.
Das Hauptaugenmerk liegt in der Praxis aber nach wie vor auf der Akupunktur. Dabei werden feine Nadeln in die Haut gesetzt. Allein die Erklärung, dass es rund 400 definierte Akupunkturpunkte gibt, die nicht nur an verschiedenen „oberflächlichen“ Stellen, sondern auch verschieden tief sitzen können, lässt die Komplexität dieses Fachgebiets erahnen. Die Nadeln gibt es in verschiedenen Stärken und Längen – je nach Anwendungsfall. Matthias Kunth erzählt: „Durch die vielen Wochen in China habe ich eine sehr fundierte Ausbildung auf diesem Gebiet erhalten. Im Vergleich mit China lernt man in Deutschland ja nur einen ganz kleinen Bruchteil von dem Ganzen.“ Das erklärt vielleicht auch die Tatsache, dass einige der langen Nadeln, die für besonders schwer zugängliche Bereiche genutzt werden, nur in Fernost erhältlich sind. „Ich glaube, diese Nadeln haben nicht viele in Deutschland. Die werden direkt aus China bezogen“, ergänzt der Arzt. Doch ganz egal, ob viele oder wenige Nadeln, dünne oder dicke, lange oder kurze – einen Akupunkturpunkt zu treffen, braucht nicht nur Erfahrung, sondern bedeutet immer, einen energetischen Prozess auszulösen. „Beim Setzen der Nadel muss man merken, dass man ein Qi-Gefühl auslösen kann. Ohne dieses Gefühl geht es einfach nicht.“
Dieses Qi-Gefühl ist womöglich genau das, was Matthias Kunth meint, wenn er davon spricht, bei seiner Ausbildung in China Dinge von seinen Lehrmeistern vermittelt bekommen zu haben, „die in keinen Büchern stehen“. Denn auch wenn TCM oftmals als Zauberei oder Quacksalberei abgetan wird, basiert die Heilmethode auf jahrhundertealten Erfahrungen und einem fundierten Verständnis des menschlichen Körpers und hat sich als wirksame Ergänzung zur Schulmedizin oder alternative Heilmethode in vielen Bereichen etabliert.