Die Eisvögel von Hirschhausen

Text: Richard Kienberger | Fotos: Richard Kienberger

Es geht ums Zammstessn, Hermassn, Vorbeigeh, um Ringal und schließlich sogar um Dessous, genauer: um a rode Unterhosn. Unvorstellbar, dass da einer mitmachen könnte, den seine Eltern mit einem Vornamen wie Kevin oder Johnny Blue gestraft haben. Nein, die Mannschaft, die sich an einem wunderbaren Wintertag auf dem Eisweiher gleich unterhalb von Hirschhausen versammelt hat, besteht ausnahmslos aus Urbayern. Die heißen Huber Urban, Kuaffa Hans, Bauern Alis oder Medel Toni. Zum Teil stehen die Namen so nicht im Personalausweis. Einige Schützen werden nämlich mit den alten Hofnamen angesprochen, wieder andere mit ihren Spitznamen. Stundenlang ist kein hochdeutsches Wort zu vernehmen, es wäre einfach unpassend. Aus Schweitenkirchen und Hirschhausen und Schmidhausen kommen die Eisstockschützen, erstmal nur Männer, bis später Hubers Frau und ihre Tochter dazustoßen. Und auf dem Eis, da ist es so ähnlich wie beim Watten und Schafkopfen im Wirtshaus oder bei den Schuhplattlern aus dem Oberland. Derb also.

Gar nicht ginge es ohne den Graf Hermann, Landwirt aus Hirschhausen. Ihm gehört eine fast ebene Wiese, die ideale Voraussetzungen für das Wintervergnügen bietet: Ein Bach, der mit ein paar Brettern aufgestaut wurde, trennt die Wiese von dem eingezäunten Hang, auf dem ein paar Schafe durch den Schnee stapfen. Drei Eisbahnen wie aus dem Bilderbuch sind so entstanden, mit Flutlichtlampen und einem alten Bauwagen. Die mobile Herberge lässt sich mit einem Kanonenofen und ein paar Holzscheiten auch an kalten Tagen auf angenehme Temperaturen bringen. Das Umwidmen von ausrangierten Bauwagen zum Wirtshausersatz am Dorfrand ist also keine Erfindung der moder-
nen Landjugend, wenn auch die Eisstockschützen darauf verzichten, von ihrer Bierkabine Fotos ins Internet zu stellen. Oder, um die allwissende Suchmaschine zu zitieren: Es wurden keine mit Ihrer Suchanfrage „Bauwogn Hirschhausen“ übereinstimmenden Dokumente gefunden.

Die Spieler einer Mannschaft markieren ihre Stöcke mit farbigen Schleifen. Weil an diesem Tag mehr Spieler als „rode Ringal“ da sind, fragt einer: „Hod denn koana a rode Unterhosn o?“ Die Wahrheit bleibt verborgen, doch die Männer hier sehen eher nach weißem Feinripp als nach roten Tangas aus.

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Wer zusammengehört, wer gewinnt oder verliert, das ist für den Zuschauer eigentlich egal.

Viel interessanter ist es, die Technik der Schützen zu bestaunen und der Unterhaltung zu folgen. Die Gewinner sind naturgemäß redseliger als die Verlierer. Der Bader Luck, auch bekannt als Davidn Luck, bürgerlich Ludwig Schwaiger, haut seinen Eisstock jedes Mal so verdreht auf das Eis, dass sich das gedrechselte Holzteil eigentlich überschlagen oder zumindest völlig verirren müsste. Doch irgendwie beruhigt sich der Stock mit dem schweren schmiedeeisernen Ring, scheint danach aber auf dem Weg zum Ziel zu „verhungern“ – und landet am Ende fast auf den Millimeter da, wo ihn der Austragsbauer haben wollte. Also sanft neben der Daube oder knallend an einem Eisstock der Gegner, der weggeschossen werden muss. Ein anderer Mitspieler, der im Hauptberuf offenbar Autobatterien vertreibt, darf sich nach einem Patzer anhören, er schieße ja noch schlechter, als seine Batterien seien. Sonst ziemlich treffsicher, ist dem Mann der Eisstock diesmal „vorbeiglaffa“, also, ohne die gegnerischen Stöcke zu treffen, ins schneeweiße Nirwana gerauscht.

Unterhaltsam ist das alles, auf den ersten Blick ein Spektakel an der Grenze zur Realsatire. Und letztlich sehr beruhigend, denn es zeigt die urwüchsige Kraft der Tradition: So ging es auch schon vor hundert oder noch mehr Jahren auf den Eisweihern zu. Die Kommentare waren in ihrer Essenz vermutlich nicht viel anders, die Regeln auch nicht, und statt einem Bauwagen zimmerten sich die Leute damals vielleicht einen kommoden Unterstand aus ein paar Brettern, um zwischendurch oder nach dem Spiel ein Bier zu trinken und den letzten Dorfklatsch auszutauschen.

Netzwerken heißt hier noch Ratschen,

und soziales Leben funktioniert noch ganz ohne Cyber-Communitys. Die Eisstockschützen von Hirschhausen repräsentieren einen kleinen Ausschnitt dessen, was man getrost als gewachsene Kultur bezeichnen kann, das lebendige Wurzelwerk eines Baums, der zwar immer da, aber permanenter Transformation unterworfen ist und sich daher in jedem Sekundenbruchteil ein wenig verändert.

Urban Huber schießt oft in Hirschhausen, die Eisbahnen liegen ja nur ein paar Kurven von seinem Wohnhaus im nächsten Ortsteil entfernt. Huber ist auch so ein Mensch, der wurzelt, der die Vergangenheit mit sich trägt.

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Der Großvater kam aus Haag an der Amper nach Schweitenkirchen und hatte dort in der Ortsmitte eine Werkstatt, noch aus Holz gebaut, in der er eine Wagnerei betrieb. 1941 baute sich der Handwerker ein neues Domizil am damaligen Ortsrand. Aus massiven Backsteinen und damit deutlich haltbarer als die alten Holzschuppen. In den letzten Kriegstagen schlug eine Granate in der neuen Werkstatt ein, riss ein ansehnliches Loch in die Westwand, richtete aber sonst keinen größeren Schaden an. „Als Kind hatte ich somit die Granatsplitter zum Spielen“, erzählt Urban Huber und zeigt an die Stelle, die damals beschädigt wurde – er arbeitet immer noch in dem Gebäude von 1941.

Der Hackstock vom Großvater steht auch noch da, ein massiger Brocken Eiche.

Der Vater folgte dem Großvater und übernahm die Wagnerei, doch schon in den späten 50er Jahren zeichnete sich ab, dass der Beruf keine große Zukunft haben würde. „Aber ich wollte die Werkstatt irgendwie weiterführen und entschloss mich daher, Holzbildhauer zu lernen“, sagt Huber. Dafür fuhr er dann nach München, in das Berufsbildungszentrum für Bau und Gestaltung.
Der Handwerksmeister Urban Huber arbeitet für das Erzbischöfliche Ordinariat, restauriert Antiquitäten, macht Sonderanfertigungen und Nachbauten, zum Beispiel von gestohlenen Sakralfiguren. Und er arbeitet für seine Spezln vom Eisweiher. Denn Huber versteht sich darauf, wunderschöne Eisstöcke zu drechseln. Keine modernen Wettkampfgeräte mit Plastikplatten als Lauffläche, die sind bei den Amateuren in Hirschhausen verpönt, nein, Unikate aus dem Holz von Obstbäumen und mit einem Griff aus Akazie oder Steinbuche, denn „der muss hart sein“, erklärt Huber. Am besten laufen Stöcke aus Kirschholz, weiß er. Die Rohform arbeitet er mit der Bandsäge aus Blöcken, die längs zur Faser geschnitten wurden. Also nicht als Scheiben, sondern als dicke Bohlen. Die müssen dann erst einmal fünf bis sechs Jahre an einem schattigen Platz trocknen, ehe sie weiterverarbeitet werden. Dass Huber die Sache mit dem Stock am Stiel perfekt beherrscht, hat sich herumgesprochen. „Wenn plötzlich zwanzig Leute einen haben wollen, muss man erst einmal sehen, wo genug vom richtigen Holz zu bekommen ist.“

Der Durchmesser eines „Männerstocks“ beträgt rund 25 Zentimeter,

bei Stöcken für Frauen kann es etwas weniger sein. Den Rohling spannt Huber in eine uralte Maschine, die sein Großvater 1927 gebraucht gekauft hat. Das unverwüstliche, riemenbetriebene Stück dürfte also auf die neunzig Jahre zugehen, und es war noch nie etwas kaputt daran. Mit verschiedenen Schnitzeisen drechselt er die Form aus dem Holz, mit der beeindruckenden Präzision eines Künstlers, der genau im Kopf hat, wie das fertige Werkstück aussehen wird, noch bevor der erste Span fliegt. „Wichtig ist, den Rand konisch zu drechseln, dann hält der Eisenring auf natürliche Weise“, sagt er. Das Bandeisen wird später ein Schmied um den Stock legen. Dabei darf die Temperatur des Metalls 400 Grad nicht übersteigen. „Warm nennt das der Schmied“, wundert sich Huber.
Der Griff ist auch solides Handwerk, geschabt und gehobelt und geschliffen, ohne Ecken und Kanten. Am Ende passt er genau in das Loch mit 35 Millimeter Durchmesser, in das er eingeschlagen und mit Hilfe von Leim und einem Keil fixiert wird. Doch selbst einem routinierten Handwerker wie Urban Huber unterläuft gelegentlich ein Malheur. Als er für den Fotografen einen Eisstock gedrechselt und am Ende den Griff eingeschlagen hat, fällt es ihm plötzlich ein: „Jetzt wird das Verzieren viel schwerer, das ist ja einfacher, wenn der Griff noch nicht drin steckt.“ Wer beim Holzbildhauermeister einen Eisstock bestellt, darf schon erwarten, dass der Rauten oder ein florales Muster in das Sportgerät schnitzt.

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Schließlich folgt, nachdem der Schmied die Stöcke zurückgebracht hat, das Finishing. Der Eisstock wird noch einmal geschliffen, eventuell gebeizt, damit das Holz etwas dunkler erscheint, die Schnitzereien werden mit Erdfarben verziert, und der Stock drei Mal mit Hartöl gestrichen. „Beim dritten Mal glänzt er dann.“ Muss Huber auch ein Mindesthaltbarkeitsdatum in seine Eisstöcke ritzen? „Die halten ein Leben lang. Ein paar Leute schießen noch mit Stöcken, die mein Vater vor Jahrzehnten gemacht hat. Man muss die im Sommer an einem schattigen und luftigen Platz aufheben. Wenn der Ring locker wird, stellt man den Eisstock ins Wasser.“ Gelegentlich kommt es auch vor, dass ein Griff abgeschossen wird. Doch Hubers Werkstücke sind keine Wegwerfprodukte, so ein kaputter Griff lässt sich ersetzen, und schon gleitet der Stock wieder über die Eiswiese.

Nicht überdreht, aber doch zu Späßen aufgelegt, nicht gemein, aber hin und wieder schon „gschert“, nicht mehr ganz jung, aber manchmal Lausbuben, so sind sie, die Eisstockschützen von Hirschhausen. Echte Kerle, lustige Vögel, Eisvögel eben. Auch Urban Huber liefert manchmal Dinger, die ganz gute Geschichten hergeben. Eine dieser Episoden erzählte letztens Hans Hipp. Bei einem Fototermin mit dem Wachs-Spezialisten (vgl. Quer 19, Ausgabe 3) war die Rede zufällig auf Urban, den Holz-Spezialisten, gekommen. „Wir kennen uns von früher. Sein Vater spielte jahrzehntelang das Bombardon und war in Schweitenkirchen so etwas wie ein Original.“ Der junge Huber fuhr damals einen Porsche. „Als mein eigenes Auto einmal nicht ansprang, wollte er mich wegschieben. Mit seinem Porsche und das am Pfaffenhofener Hauptplatz.“ Urban Huber fuhr vorsichtig an die hintere Stoßstange von Hipps Wagen und begann dann tatsächlich zu schieben. Es klappte, die Autos nahmen Fahrt auf, wurden immer schneller – bis ein abgesenkter Kanaldeckel die Beschleunigung jäh stoppte. „Dann hat es nicht mehr gepasst, und aus dem Anschieben ist ein Auffahrunfall geworden.“ Ja, der Urban lässt es halt gerne krachen – so oder so ähnlich würden Hubers Eisstockfreunde den Hauptplatz-Stunt wohl kommentieren, weil sie ja nicht blöd sind, wenn es ums blöd Daherreden geht.