Der gute Hirte
Text: Richard Kienberger | Fotos: Richard Kienberger und Lena Drexler
Etwas überraschend kommt an diesem Sonntag in einem Winter, der kein richtiger Winter sein will, der Schnee. Nicht viel, aber viel genug, um die Landschaft zwischen Pörnbach, Puch, Reichertshofen und Freinhausen mit einem weißen Teppich zu überziehen. Das Licht und die Farben verschwinden mit dem Schnee und den tiefen, schweren Wolken. Häuser, Bäume und Menschen passen sich über Nacht dem Grau des Himmels an. Nur den blattlosen Birken ist die Veränderung kaum anzumerken, sie stehen im Winterhalbjahr so oder so schwarz-weiß an den schmalen Bachläufen und Wassergräben im Paartal.
Otto Aucktor nimmt den Wetterumschwung mit dem Achselzucken eines Menschen zur Kenntnis, der es gewohnt ist, mit der Natur zu leben. Mit ihren Launen, dem Wechsel der Jahreszeiten, dem unberechenbaren Wetter, über das man schimpfen und dem man sich vielleicht anpassen, das man aber nicht ändern kann. Aucktor gehört einer fast schon ausgestorbenen Spezies an. Er ist Wanderschäfer. Einer, der mit seiner Herde lebt und den Jahreszeiten folgt. Im Sommerhalbjahr weiden seine Schafe im Landkreis Donau-Ries, in der Gegend, aus der er kommt. Beginnt das Winterhalbjahr, zieht Aucktor mit den Tieren einige Tage lang in Richtung Osten – sie überwintern in der Gegend um Buch. Und das nicht erst seit Kurzem. Schon Aucktors Vater hat als Wanderschäfer gelebt und gearbeitet und die ergiebigen Weiden im Pörnbacher Land für sich entdeckt: „Der war im Winter in Puch, so lange ich denken kann“, erinnert sich Aucktor. „Dort ist das Klima etwas milder als im Ries und es gibt mehr Wiesen, auf denen die Schafe auch im Winter Futter finden.“ Also haben die Schäfer aus Harburg in Schwaben vor Jahrzehnten begonnen, zwischen November und April die Weiden am Nordwestrand der Hallertau zu pachten und dort ihr Winterquartier aufzuschlagen.
Aucktor arbeitet seit 1991 hauptberuflich als Schäfer. „Davor bin ich mit meinem Vater mitgegangen. Der hat sein Leben lang nichts anderes gemacht.“ Früher, als Aucktors Großvater in der Landwirtschaft nebenher noch ein paar Schafe hatte, war Schäfer noch ein Beruf, in den man allmählich hineinwuchs. Aucktor dagegen ist sozusagen ein moderner Schäfer, er hat den Job einige Jahre lang ordentlich erlernt und als Tierwirt, Fachrichtung Schafe, erst den Gesellen- und dann den Meisterbrief erworben. Zudem absolvierte er als Quereinsteiger die Gesellenprüfung im Metzgerhandwerk. Mag sein, dass eine formale Ausbildung heute sein muss. Aber auch wenn Aucktor das so nicht sagt – für ihn ist wohl etwas anderes viel wichtiger als Briefe und Siegel. Nämlich die Leidenschaft für einen seltenen Beruf, der weit weg ist von Freiluftromantik und den komfortablen Seiten eines Bürojobs. Denn „Schäfer ist nicht nur Beruf, sondern vor allem Berufung“, sagt der Wanderschäfer aus dem Donau-Ries.
Seine Tiere fordern ihn. Vierhundert Köpfe ist die Herde stark,
die kräftigen Viecher gehören zur Rasse Merinolandschaf. Vierhundert Schafe, die Otto Aucktor ständig im Auge haben muss: Ist eines der Tiere krank? Muss er Putzhilfe leisten? Hat sich eines auf der Suche nach Futter zu weit von der Herde entfernt? Manchmal sieht man Aucktor die Härte seines Berufs an. Wenn er auf seinem Schäferstab lehnt, das Kinn auf die kräftigen Hände gestützt, und die Augen langsam über das weite Land zwischen seinen Stiefelspitzen und dem Horizont gleiten lässt. Es ist ein Leben, das flüchtig betrachtet nach großer Freiheit aussieht und sich doch in einem engen Korsett abspielt. Unbarmherzig und ohne Rücksicht auf persönliche Befindlichkeiten gibt die Natur den Takt vor, dem Otto Aucktor zu folgen hat, ob er nun will oder nicht, ob er müde ist oder wach, oder nach einem langen Tag erschöpft. Letztlich sind es die Schafe, denen er auf dem Weg zur Weide vorangeht, die aber in Wirklichkeit über seine Tage bestimmen. Sie fordern jeden Tag die Aufmerksamkeit des Hirten, wollen auf Weiden geführt werden, auf denen es genug Gras zum Sattwerden gibt. Ist der Winter hart, lassen sie sich ersatzweise auch mit gutem Grummet zufriedenstellen. Wann der Schäfer seinen letzten Urlaub gemacht hat, weiß er nicht mehr genau: „Das ist mindestens schon 23 Jahre her. Seitdem verfällt er mir immer.“
Ein Wanderschäfer betrachtet den milden Winter auch aus einem anderen Blickwinkel als Menschen, die sich in der warmen Stube über die Launen des Wetters auslassen und eigentlich nie zufrieden sind: Für ihn ist das ein guter Winter gewesen, weil seine Herde mühelos immer genug Futter fand und sich rund um Puch fett fressen konnte. Auch die weiße Pracht, die nicht viel mehr ist als ein flüchtiger Hauch von Winter, stellt für die Schafe kein Problem dar. Die Schneedecke ist dünn und weich genug, um ohne Scharren an die Grashalme zu kommen. Und was einem Menschen einen Schauer über den Rücken jagt, gehört zur Natur der Tiere:
Sie lammen im Hochwinter.
Etliche Jungtiere staksen schon über die Weide, praktisch jeden Tag vergrößert sich die Herde um neue Lämmer. Der Wintertag beginnt für den Wanderschäfer vormittags an seinem Stall in Puch. Dort stehen ein paar Muttertiere mit ihren Lämmern und knabbern an einem Heuballen. Einige Hundert Meter weiter hat die Herde die Nacht im Freien verbracht, zusammengehalten von einem orangeroten Elektrozaun, den Aucktor nach einigen Tagen an einen anderen Platz versetzt. Bevor er mit den Tieren auf die Weide zieht, fängt er noch ein frisch geborenes Lamm ein. Um die Mutter braucht er sich nicht zu kümmern, die folgt ihrem Kleinen automatisch. Der Schäfer verfrachtet die beiden Tiere in den Anhänger und bringt sie in den Stall. Danach macht er sich fertig für die Tageswanderung. Zieht sich den dicken Filzmantel an, holt Schäferstab und Hundeleine aus seinem Allradauto und öffnet schließlich den Pferch.
Für die Schafe ein gewohntes Ritual, jetzt dürfen sie ausschwärmen
und erst einmal den Schnee rund um das Nachtlager zertrampeln. Ein paar Minuten später folgen sie bereitwillig ihrem Hirten, wohl wissend, dass der wieder einen guten Futterplatz für sie ausgesucht hat. An diesem Tag ist das eine Wiese nördlich des Pörnbacher Gewerbegebiets, gleich neben der B 13. Als die flotte Herde nach einer Viertelstunde dort ankommt, fangen die meisten Schafe sofort zu fressen an. Nur ein Tier verhält sich sonderbar, sondert sich ein wenig vom Rest ab. Legt sich hin, steht wieder auf. Nach einigen Minuten ist unter dem Stummelschwanz des Mutterschafs der Kopf eines Lämmchens zu sehen. Unruhig läuft das Schaf hin und her, bis es einen passenden Platz gefunden hat, an dem es das Neugeborene ganz herauspresst und in den Schnee fallen lässt. Es ist kaum zu glauben – aber nachdem die fürsorgliche Mutter das neue Mitglied der Herde noch keine fünf Minuten lang abgeleckt und gesäubert hat, steht das offenbar gesunde Lamm auf eigenen – wenn auch noch wackligen – Beinen und sucht sich kurze Zeit später eine Zitze am Euter.
Otto Aucktor hat dieses berührende Schauspiel schon Hunderte Male gesehen. Mit routiniertem Blick erkennt er, ob das lammende Schaf Hilfe benötigt oder allein zurechtkommt. Später dürfen Lamm und Muttertier den Weg zurück in den Pferch im Anhänger zurücklegen. Bis dahin bleiben die beiden bei der Herde, während Aucktor und seine Hündin Flora aufpassen, dass sich keines seiner Schafe auf die B 13 verirrt. Als sich die Sonne am späten Nachmittag mühsam durch den dünner werdenden Schneewolkenvorhang kämpft, sieht der Schäfer im Gegenlicht aus wie ein Monument aus anderer Zeit. Den Hirtenstab mit dem gebogenen Fanghaken an der Spitze hat er sich unter die Achsel geklemmt, er schaut nach Westen über seine Herde und in die Sonne, die den Schnee noch einmal aufleuchten lässt, bevor er in ihrer Wärme zerschmilzt, die zu viel ist für den Schnee und zu wenig für die Menschen, die trotz der milden Temperatur in der feuchten Luft frösteln. Ein leichter Windstoß öffnet den Schoß des langen Filzmantels, der ebenso unmodern ist wie der breitkrempige Hut des Schäfers. Aber wie würde ein Wanderschäfer mit Basecap und knallbunter Fleecejacke aussehen? Es würde nicht zusammenpassen. So wie er gekleidet ist und gedankenverloren im gebrochenen Licht der tiefen Wintersonne steht, ist Otto Aucktor einfach nur authentisch.
Viele Wochen nach dem plötzlichen Wintereinbruch verabreden wir uns wieder. Treffpunkt am Stall in Puch, „du kannst dir Zeit lassen, denn es wird ohnehin immer später als geplant.“ Einen wunderbaren Frühlingstag hat sich Otto Aucktor ausgesucht, an dem er den langen Weg zurück ins Ries antreten will.
Nur seine Schafe wollen nicht so recht, sie scheinen gar nicht genug zu bekommen vom frischen Hallertauer Gras.
Verlaufen sich in alle Himmelsrichtungen, während Aucktor zum letzten Mal den Elektrozaun aufrollt und im Anhänger verstaut. Ein Freund wird ihm den Wagen samt Anhänger später nachfahren. Zu allem Überfluss ist Cindy, Aucktors zweite Hündin, an diesem besonderen Tag auch noch übermotiviert und folgt nicht so, wie sie eigentlich sollte. Irgendwann wird es dem Schäfer zu bunt, Cindy bekommt eine gewaltige Standpauke und muss zur Strafe eine halbe Stunde lang in den Anhänger, was ihr sichtlich missfällt.
Angetrieben von Flora, die deutlich besser in Form ist als ihre Kollegin, trottet die Herde schließlich doch noch los. Im Hintergrund zeichnet sich schemenhaft der Stall am Ortsrand von Puch ab, der bei Bedarf allen vierhundert Schafen Schutz bietet. Wie üblich geht Aucktor seinen Tieren voran, ein guter Hirte mit dem Stab im Arm und Flora an seiner rechten Seite. Er bestimmt das Tempo und schaut sich immer wieder um, ob auch alle Schafe mitkommen – oder doch noch Lust auf ein Büschel Gras verspüren, sodass einer der Hunde für geschlossene Reihen sorgen muss. Der Weg ins Sommerquartier beginnt auf der schmalen Verbindungsstraße zwischen Puch und Gotteshofen. Weil es hier eine selten befahrene Brücke gibt, auf der die Herde problemlos die B 300 überqueren kann. Radfahrer kommen vorbei und wechseln noch ein paar Sätze mit dem Wanderschäfer, der in dieser Ecke des Landkreises seit vielen Jahren ein gewohnter Anblick ist. Sie wünschen ihm viel Glück für den Weg zurück und die Sommermonate. Danach blöken sich die Schafe durch die Paarauen, in denen Biber regelrechte Verwüstungen angerichtet haben. Die Bäume atmen den Frühling ein, aber es wird noch einige Tage dauern, ehe das neue Grün förmlich aus den Ästen explodiert. Jetzt stehen sie schwarz und wie immer noch eingefroren beiderseits des Flusses und bilden einen starken Kontrast zum hellen Fell der quirligen Tiere. Die scheinen den Weg zu kennen und sehen mehr als die Menschen, spüren saftige Bissen unter der grauen Rinde und den verschlossenen Knospen der Büsche, sodass Otto Aucktor schließlich nachgibt und einige Minuten stehen bleibt. Auch in Gotteshofen wittern einige der vorwitzigen Tiere schnell das Futter, das ihnen ein Bauer nichtsahnend auf dem Präsentierteller angeboten hat: Der Landwirt hat sein Fahrsilo nicht ganz abgedeckt, was sechs der Schafe als unmissverständliche Einladung verstehen und sich nach Herzenslust bedienen, ehe Flora und Cindy die Silodiebe wieder zur Herde treiben.
Hinter Gotteshofen trotten die Schafe neben einem abgeernteten Spargelacker und einer halben Birkenallee den Berg hoch in Richtung Reichertshofen. Wie üblich, bewegt sich die Herde außerhalb der Ortschaft. Die großen Straßen und Siedlungen meidet Aucktor nach Möglichkeit. Nur auf dem Weg von der Sommerweide ins Winterquartier folgt er einer anderen Route, die ihn durch Neuburg führt: „Das passiert immer an einem Sonntagvormittag, wenn kaum Autos unterwegs sind“, erzählt der Schäfer und wirft einen Blick hinüber nach Reichertshofen, das auf dem Treck zurück ins Ries rechts liegen bleibt. Dann ändert er die Richtung, biegt scharf nach Westen ab, um auf die Flurbereinigungsstraße und die Brücke zu kommen, unter der zwischen steil abfallenden Böschungen die B 13 verläuft. Ein paar Minuten später hat Otto Aucktor mit seinen vierhundert Tieren die Landkreisgrenze erreicht. „Wir sind sehr spät dran heute“, sagt er und wirft einen vorwurfsvollen Blick auf seine Schafe. Knapp 15 Kilometer am Tag muss er schaffen, um wie geplant nach sechs Tagen zu Hause zu sein. Auf den Sommerweiden erwartet die Herde eine Landschaft mit viel Magerrasen, dessen Existenz auch von den Schafen abhängt: „Der muss kurz gehalten werden, sonst verändert sich die Vegetation. Dort wächst zum Beispiel die Küchenschelle, die viel Licht braucht. Das Ries ist ein ganz besonderes Ökosystem, in dem die Schafherden ein wichtiger Bestandteil sind“, erzählt der Schäfer.
Vermutlich am 23. November, einem Sonntag, wird Otto Aucktor dann wieder durch Neuburg ziehen, diesmal auf dem Weg ins Winterquartier. Vielleicht auch eine Woche später, wenn das Wetter entsprechend ist. Zwei Tage später wird er mit seiner Herde in Puch eintreffen und seinen nächsten Winter im Landkreis Pfaffenhofen verbringen. So wie all die Jahre zuvor.