841 Pfeifen
Text und Fotos: Richard Kienberger
Es gibt Legenden, die zu schön sind, um wahr zu sein. Kaiser Justinus II., der von 565 bis 578 von Konstantinopel aus das oströmische Reich regiert hat, sagt man nach, wahnsinnig gewesen zu sein – und angeblich wurde das phasenweise Irresein des Regenten erfolgreich durch tage- und nächtelanges Orgelspiel bekämpft. Eine schöne Geschichte, doch die Quellenlage ist dünn und es könnte sein, dass der Wahnsinn nur üble Nachrede der vielen Intriganten war, die sich am Hofe tummelten. Was allerdings wahr und unbestritten ist, ist das Vorhandensein von Orgeln am Hof der oströmischen Kaiser, die in Byzanz beziehungsweise Konstantinopel ihren Geschäften nachgingen, wenn sie nicht gerade im Riesenreich auf Feldzügen unterwegs waren.
Angesichts ihrer Komplexität kaum zu glauben, aber die Orgel ist eine uralte Erfindung, die auf den griechischen Techniker Ktesibios zurückgeht.
Der erfolgreiche Bastler, der sich mit einem breiten Themenspektrum be schäftigte und neben der Orgel zum Beispiel auch noch Feuerwehrspritzen und mechanisches Spielzeug entwarf und baute, lebte im dritten vorchristlichen Jahrhundert in Alexandrien (heute liegt das in Ägypten). Der Clou an der Erfindung von Ktesibios war die Erzeugung von Tönen in einer Pfeifenreihe durch ein ausgetüfteltes Pumpengebläse, wobei mithilfe von Wasser Druck aufgebaut und geregelt wurde. In diesen Ur-Orgeln wurde mit einem Winddruck von rund 1 atü (oder 10 m Wassersäule) gearbeitet, moderne Kirchenorgeln kommen mit rund einem Hundertstel dieses Wertes aus.
Als es erfunden war, hieß das Gerät noch nicht Orgel. Dieser Begriff ist auf das griechische Wort organon zurückzuführen, der allgemein Werkzeug oder Instrument bedeutet und erst später für das neuartige Musikinstrument benutzt wurde. Der Erfinder selbst nannte seine Kreation Wasser-Aulos, wobei der Aulos zu dieser Zeit ein gebräuchliches Blasinstrument war. Es wäre faszinierend zu hören, wie diese Ur-Orgeln geklungen haben und vor allem welche Musikstücke auf ihnen gespielt wurden – vielleicht waren es ja anfangs nur bestimmte Töne, ähnlich den Signalen, die man vom Militär oder den Jagdhornbläsern kennt und die eine Botschaft für die eingeweihten Mitstreiter darstellen.
Bis die Orgeln ihren Weg in die Kirchen fanden, dauerte es noch einige Jahrhunderte.
Zunächst begeisterten sich Griechen und Römer für das Instrument, das vermutlich zu dieser Zeit in der Lage war, die lautesten Töne zu erzeugen. Also geradezu ideal, um in den Arenen eingesetzt zu werden, in denen einer johlenden Menge zum Beispiel Kämpfe zwischen Menschen – in der Regel Gefangenen – und wilden Tieren präsentiert wurden. Weil die bedauernswerten Opfer in der Arena zur Zeit des berüchtigten Christenverfolgers Kaiser Nero recht häufig gläubige Christen waren, verbanden diese mit den Orgeln natürlich keine sonderlich positiven Gefühle. Ungefähr im vierten und fünften nachchristlichen Jahrhundert kam die Orgel nach Byzanz. Bis dahin hatte sich ein zweites Bauprinzip entwickelt, wann genau, ist unklar. Neben der üblichen Wasserorgel wurden auch Balgorgeln gebaut, die allerdings kleiner, damit auch weniger stimmgewaltig und ursprünglich vermutlich für den Haus gebrauch bestimmt waren. In Konstantinopel erlebte das mächtige Instrument eine neue Blütezeit am kaiserlichen Hof (vielleicht auch, um kaiserlichen Wahnsinn zu kurieren), wurde für viele Jahre zum Statussymbol und war die erste Wahl unter den Musikinstrumenten, die der Verehrung des Regenten dienten.
Der Weg zurück in die Kirche
Den Weg vom Osten zurück in den Westen fanden die Orgeln im 8. Jahrhundert, als König Pippin der Kleine (714 – 768) im Jahre 757 vom byzantinischen Kaiser Konstantin V. (718 – 775) eine Orgel geschenkt bekam. Es dauerte dann noch einmal rund 250 Jahre, ehe die Orgel begann, sich allmählich als Instrument in der Kirchenmusik zu etablieren, zunächst allerdings nur in Klöstern. Aber offenbar begeisterte sich der Klerus immer stärker für das tongewaltige Instrument, das so zum liturgischen Werkzeug wurde und 1287 vom Konzil in Mailand als „einziges Gottesdienstinstrument“ geadelt wurde. Damit war die Orgel fester Bestandteil der Liturgie. Vermutlich um 1500 wurde dann das Pedal erfunden, das die Möglichkeiten des Orgelspiels noch einmal er weiterte.
Nach einer Orgelkrise während der Reformationszeit differenzierten sich nicht zuletzt aufgrund des steigenden Bedarfs regional und baulich unterschiedliche Konstruktionsweisen aus (sogenannte Orgellandschaften in den großen europäischen Ländern). In Deutschland teilte sich die Bauart der Orgeln seit dem Barock wiederum im Wesentlichen in eine nord-, mittel- und süddeutsche Schule auf. Die mitteldeutschen Orgeln erlangten eine gewisse Berühmtheit, weil Johann Sebastian Bach (der ein begnadeter Orgelspieler und -gutachter war) seine Orgel-Werke für diesen Typ komponierte. Während des 19. Jahrhunderts versuchte man, den Typus der Orgel in einigen Aspekten zu verändern, doch seit Anfang des 20. Jahrhunderts wurde im Orgelbau wieder die Variante „barocke Bachorgel“ favorisiert, auf der die Kompositionen von Bach und seinen Zeitgenossen adäquat gespielt werden können. Inzwischen hat – allerdings in bescheidenem Umfang – auch moderne Technologie Eingang in den Orgelbau gefunden.
Neue Instrumente bestehen zum überwiegenden Teil immer noch aus traditioneller Handwerkskunst und zu einem kleinen Teil aus moderner digitaler Technik für sogenannte elektronische Spielhilfen. Außerdem finden bei Neubauten behutsam neue Materialentwicklungen wie Teflon oder auch Carbon Verwendung.
Trotzdem bestimmen, wie bei vielen kleineren Musikinstrumenten auch, immer noch die Erfahrung der Orgelbaumeister, deren handwerkliches Geschick, die Qualität der Herstellung und nicht zuletzt die Tradition, der man sich verpflichtet fühlt (was wiederum untrennbar verbunden ist mit den Wünschen der Auftraggeber), den Charakter einer Orgel.
Die Orgel mit ihrer in zwischen mehr als zweitausend Jahre alten Geschichte ist ein faszinierendes Instrument, denn genau genommen macht sie das Unmögliche möglich:
Ein einzelner Spieler kann gleichzeitig eine Vielzahl von Instrumenten – im Extremfall sogar Hunderte – spielen, in diesem Fall handelt es sich um Blasinstrumente. Schließlich stellt, genau betrachtet, jede der vielen Orgelpfeifen ein eigenes Instrument dar. Die größten Orgeln der Welt sind, wie sollte es anders sein, in den USA zu finden. Allgemein gilt die Orgel in der Boardwalk Hall in Atlantic City mit 33.114 Pfeifen als Weltrekordhalterin. Im siebenstöckigen Warenhaus Macy’s in Philadelphia (Pennsylvania) steht ein weiteres Großinstrument, die Wanamaker Grand Court Organ. Mit ihren 28.522 Pfeifen gilt sie als größte spielbare Orgel und wird außer sonntags zweimal täglich geschlagen. Als größte Domorgel weltweit firmiert das Instrument im Passauer Dom, das den Kirchenraum aus immerhin 17.974 Pfeifen beschallt.
Deutschland kann noch einen weiteren Superlativ für sich reklamieren: Mit insgesamt rund 50.000 Instrumenten, hauptsächlich in Kirchen, gibt es hierzulande die weltweit größte Orgeldichte. Was dazu geführt hat, dass „Orgelbau und -musik“ im Dezember 2017 in die Unesco-Weltkulturerbeliste aufgenommen
wurde.
Eine neue Chororgel für die Basilika
Mit deutlich kleineren Dimensionen als ihre großen Schwestern in den USA oder in Passau begnügt sich die jüngste Orgel im Landkreis Pfaffenhofen,
die am 21. März, einem der Gedenktage des heiligen Benedikt, geweiht wurde. Die „Jubiläumsorgel“ ist eine typische Chororgel, wie es sie einmal in vielen Kirchen gegeben hat. In früheren Phasen der Orgel-Geschichte war es durchaus üblich, zwei verschiedene Instrumente in einem Sakralbau unterzubringen.
Die große Hauptorgel war für das „brau sen de“ Spiel zuständig, kleine und an fangs frei bewegliche Chororgeln wurden als Begleiterin des Choralgesangs ein gesetzt, der vor allem in den Klöstern gepflegt wurde.
Die Basilika des Klosters in Scheyern verfügt schon seit längerer Zeit über zwei Orgeln, doch die alte, 1960 installierte Chororgel ist in die Jahre gekommen und wurde allmählich unbrauchbar. Daher nahm in der Abtei nach 2010 (damals wurde mit der Renovierung der Basilika begonnen) der Gedanke, eine neue Chororgel anzuschaffen, immer konkretere Formen an.
Anfangs glich das allerdings eher einem kühnen Traum als einem realisierbaren Plan. Denn die Anschaffungskosten für ein derartiges Instrument sind erheblich, rund 350.000 Euro kostet das Wunderwerk aus Tausenden von Einzelteilen. Doch der Freundeskreis des Klosters Scheyern versprach zu helfen und sich um die Finanzierung zu kümmern. Dank zahlreicher Spenden war ein großer Teil der Kosten bis zur Orgelweihe zusammengekommen, aber weitere Spenden sind sicher willkommen. Wobei es auf Wunsch sogar eine Spendenquittung gibt, die zwar nicht vom Finanzamt anerkannt wird, aber als bleibende Erinnerung zu Hause an die gute Tat erinnert: Eine Pfeife der alten Chororgel.
Orgelbau zwischen zwei Bergspitzen
Unscheinbar sieht es aus, das nüchterne Industriegebäude in Näfels unweit des Walensees, in dem die Büro- und Werkstatträume der Orgelbaufirma Mathis untergebracht sind. Andersherum ist der Blick wesentlich spektakulärer, aus einem Werkstattfenster blickt man auf eine perfekt geformte Felspyramide, die Ostwand der Rautispitz. Näfels liegt im Schweizer Kanton Glarus, und das Land der Eidgenossen ist ja nicht gerade arm an atemberaubenden Gebirgspano ramen. Näfels ist für Historiker insofern bedeutsam, als hier am 9. April 1388 – es war ein Donnerstag – die letzte Schlacht zwischen den Habsburgern und den Eidgenossen stattfand. Zunächst behielten die Habsburger die Oberhand über die unterlegenen Glarner, doch als die vermeintlichen Sieger schon mit Plündern beschäftigt waren, eilten trotz Schnee und Regen weitere Eidgenossen über einen Gebirgspass und halfen den bedrängten Landsleuten. Gemeinsam verjagten sie schließlich die Habsburger – seitdem sind die Glarner ohne Unterbrechung unabhängige, gleichberechtigte Mitglieder der Eidgenossenschaft. Aus dieser stolzen Ecke der Schweiz kommt also die neue Scheyrer Orgel, was insofern eine schöne Girlande darstellt, weil das Kloster ja ebenfalls auf eine jahrhundertealte Geschichte zurückblicken kann und in diesem Jahr das Jubiläum „900 Jahre Benediktiner in Scheyern“ begeht. Mit jahrhundertelangem Bestehen kann die Orgelbaufirma aus Näfels nicht dienen, sie wurde 1960 von Manfred Mathis gegründet. Aber immerhin wurden seitdem fast einige Hundert Orgeln gebaut.
Der junge Orgelbauer aus Glarus hatte Glück – obwohl noch nicht etabliert und bekannt, erhielt er einen seiner ersten Aufträge von der berühmten Benediktinerabtei Disentis,
die sich ein zusätzliches Werk für die bestehende Orgel wünschte. Aus unserer Region kam Mathis‘ erster Auslandsauftrag: 1963 erhielt er den Zuschlag für den Bau einer dreimanualigen Orgel für die barocke Schutzengelkirche in Eichstätt; das Instrument sorgte aufgrund seiner Konstruktionsweise für Furore und bescherte dem Betrieb zahlreiche weitere Aufträge. Vor vier Jahren hat Mathis in der Kirche St. Anton in Ingolstadt eine neue Orgel installiert. 2016 übernahmen Franz Xaver Höller (ein junger Orgelbaumeister aus Deutschland) und Bernhard Stucki die inzwischen renommierte Firma.
Der Auftrag aus Scheyern wurde von Franz Xaver Höller betreut, der mit dem kleinen Mathis-Team die Orgel entwarf und baute. Die maximal möglichen Dimensionen waren durch die räumlichen Verhältnisse vorgegeben, am Ende musste sogar die Mauer der Balustrade „ausgedünnt“ werden, um genügend Platz für den Organisten zu schaffen. Mathis kauft traditionell nur wenige Kleinteile hinzu, der Rest wird im eigenen Haus als Präzisionshandwerk gefertigt. Im Fall der neuen Chororgel waren das neben dem Gehäuse insgesamt 814 Pfeifen – davon 80 Holzpfeifen und 734 Me tall pfeifen (aus einer Zinn-Blei-Legierung) – außerdem Spieltisch, Windlade, die Bank für den Organisten-Windladen, Spielmechanik, Tastenbeläge (gefertigt aus Knochen bzw. Ebenholz) sowie Registerschilder aus Mammutzahn. Insgesamt besteht die Orgel aus circa 5500 zerlegbaren Einzelteilen. Die Verzierungen – mehrere Schleiergitter und zwei Barockengel mit Musikinstrumenten – wurden in monatelanger Arbeit von Norbert Tuffek, einem Holzbildhauermeister aus Wendelstein bei Nürnberg, geschnitzt und dann vom Kirchenmalermeister Markus Ullrich und seiner Kollegin Iris Fanderl gefasst. Also mit mehreren Schichten Kreidegrund grundiert, immer wieder geschliffen, bemalt und graviert. An den gewünschten Partien applizierten Ullrich und Fanderl hauchdünnes Blattgold und brachten dieses mit einem speziellen Polierstein (Achat) zum Glänzen. Die Verzierungen nehmen die in der Basilika vorhandenen Stilelemente auf, sodass sich das Erscheinungsbild der neuen Orgel harmonisch in die bestehende Formensprache der frisch renovierten Kirche einpasst.
Kurz nach dem Jahreswechsel kamen die Schweizer Orgelbauer schließlich nach Scheyern, um das zuvor in der Werkstatt komplettierte und dann wieder zerlegte Instrument an seinem zukünftigen Standort aufzubauen.
Während der Rohbau innerhalb einer Woche und die Montage der Pfeifen in wenigen Arbeitstagen erledigt waren, benötigte Franz Xaver Höller noch einmal mehrere Wochen, um Pfeife für Pfeife der Jubiläumsorgel zu stimmen. Das Faszinierende daran: Höller arbeitet dabei nur bei einem Referenzregister mit elektronischen Hilfsmitteln, die Pfeifen der sieben anderen Register stimmt er nach Gehör.
Ein Höhepunkt im Jubiläumsjahr
Die Weihe der neuen Orgel fand dann am 21. März, einem der Gedenktage des hl. Benedikt, statt und sollte einer der Höhepunkte des Scheyrer Jubiläumsjahres werden. Abt Markus zelebrierte den Pontifikalgottesdienst, bei dem Domorganist Hans Leitner aus München das neue Instrument spielte, nachdem es von Hubert Stucki (einer der Geschäftsführer der Orgelbaufirma Mathis) förmlich übergeben und anschließend vom Abt gesegnet worden war. Es wurde eine fröhliche, beschwingte Messe, bei der zu spüren war, wie sehr sich die Mönche über ihr neues Schmuckstück freuten. Was Abt Markus mit einer passenden Passage aus den Paulusbriefen unterstrich: „Freut euch!“, heißt es dort. Der Aufforderung des Apostels kamen die Benediktiner und ihre Gäste an diesem besonderen Abend gerne nach.