Eine Reise von A nach P

Text und Fotos: Richard Kienberger

Tag 55 meiner Reise durch zwei Kontinente.

Vor zwei Stunden habe ich Sergej Nikolaev Germanowitsch kennengelernt. Er ist der politische Würdenträger – wir würden wohl sagen: Bürgermeister – in einem russischen Dorf mit einem unaussprechlichen Namen. Pervostepanoskoije. Das liegt einige verschneite und holprige Kilometer abseits der Hauptstraße und hingekommen bin ich, weil an der M7 ein kleines Hinweisschild steht, auf dem eine Kirche abgebildet ist. Die avisierte weißgetünchte Kirche mit den blauen Zwiebeln oben auf den beiden Türmen ist natürlich geschlossen, aber dafür führt mich Sergej von der Dorfstraße in die beiden Amtsstuben im eingeschossigen Verwaltungsgebäude. Es ist der Tag nach der Präsidentenwahl, aber Sergej Nikolaev, der mit Anzug und Krawatte seltsam wirkt, weil in diesen kleinen Dörfern eigentlich nie Anzug- und Krawattenträger zu sehen sind, die dorthin gehören, muss das Bild des Präsidenten nicht austauschen. Der alte Chef ist ja auch der neue, es war keine große Überraschung.

Beeindruckend ist vor allem der gigantische Ofen, der mehrere Zimmer – und vielleicht sogar das ganze Gebäude – heizt. Um zurück auf die Magistrale zu gelangen, folge ich den Hinweisen des Dorfschulzen. Und verfahre mich zum zweiten (und letzten) Mal auf dieser langen Reise gründlich. War es ein Zufall, der mich auf den Umweg geführt hat? Wieder einmal Nachdenken darüber, ob es „Zufälle“ überhaupt gibt, oder ob nicht vieles von dem, was wir so bezeichnen, einfach passieren muss. Denn auf diesem Umweg erscheint plötzlich ein allzu bekanntes Bild zwischen den tief verschneiten, flachen Hügeln. Ein Stangenwald, wie in der heimischen Hallertau. Pures Schwarz-Weiß, in der Winterlandschaft ebenso klar aufgeteilt wie zu Hause in Vertikale und Horizontale.

Kann es sein, dass es hier, sozusagen einige Kilometer vor Sibirien, Hopfengärten gibt? Ich staune.

Der Feldweg zum Hopfengarten ist nicht geräumt und daher nicht befahrbar, im Dorf daneben parke ich mein Auto und kämpfe mich einige Hundert Meter durch knietiefen Schnee, um diese Analogie zur Heimat zu fotografieren. Die Gerüste bestehen hier aus Betonstangen, wie sie auch für Stromleitungen oder die Straßenbeleuchtung verwendet werden. Wie kam der Hopfen hierher? Wem gehören die Plantagen? Wie schafft es der Hopfen, angesichts der deutlich kürzeren Vegetationsperiode in diesem Landstrich, nach oben? Oder reichen dafür die heißen Tage, die das Kontinentalklima im Sommer üblicherweise beschert? Ich würde das gerne mit dem russischen Pendant zu einem gestandenen Hallertauer Hopfenbauern bereden, doch die Besitzerin des Dorfladens sagt, aus der Siedlung arbeite niemand in dieser Anlage. Die werde von einem privaten Kombinat aus einem anderen Dorf betrieben, das im Frühjahr mit einer eigenen Brigade von irgendwoher anrücke und die anfallenden Arbeiten erledige.

Schon einige Tage zuvor gab es einen ähnlichen „Zufall“. Auf dem Rückweg vom faszinierenden Baikalsee (eines der größten Süßwasserreservoirs der Erde) nach Irkutsk wollte mir keiner der vier oder fünf angesteuerten Plätze gefallen, um dort die Nacht im Auto zu verbringen. Schließlich tauchte die Kirche im nächtlichen Schneegestöber auf, deren Parkareal bei der Hinfahrt am Morgen – es war ein Sonntag – gut belegt war. Ja, das wäre der richtige Platz, groß genug und auch sicher. Nach wenigen Minuten klopft ein Mann ans Fenster meines Autos und erklärt, er sei der Wächter, der auf die Kirche aufpasse. „Gibt es ein Problem?“ – „Nein, aber hier kannst du nicht stehen bleiben.“

„Warum?“ – „Parke dein Auto an der Rückseite der Kirche, dort kann ich auch auf dich aufpassen.“ Die Unterkunft des Mannes, neben der er mir den Nachtparkplatz zuweist, ist ein armseliger Verschlag, eine wüste Mischung aus altem Sowjetcontainer, Sperrholzplatten und gebrauchtem Isoliermaterial. Hinter drei unterschiedlich großen Fenstern sind andere Männer zu erkennen, aufgehängte Plastiktüten, Salz- und Pfefferstreuer, eine rote Plastikflasche (möglicherweise ist es Ketchup), ein Stromkabel und ein Handtuch auf einer Wäscheleine. Wenig später klopft es wieder am Autofenster, diesmal werde ich zum Essen gebeten.

Es gibt eine bescheidene Suppe mit Kartoffeln und Karotten und zwei riesigen Rinderknochen in der Brühe, an denen viele Sehnen, aber kaum Fleischreste hängen; die Männer werden später genussvoll das Mark herauspulen. Gegessen wird auf einem Gestell, das die ganze hintere Ecke der Bude einnimmt und als Bett, Sitzgelegenheit und Unterlage für den Tisch dient. Der Tisch wiederum ist ein etwa quadratmetergroßes Tischtuch, das auf die Bettdecke gelegt wird, beide aus demselben, ockerfarbenen Stoff. Wäre da nicht die dampfende Suppe, würde man nicht glauben, dass der verkrustete, schiefe Elektroherd, an dem die Backofentür fehlt und das Rohr aussieht wie ein fauler, schwarzer Backenzahn, überhaupt noch gebrauchsfähig ist. Auch der Rest der Einrichtung legt Zeugnis davon ab, dass der Bewohner dieser simplen Unterkunft weit davon entfernt ist, mit mehr als nur dem Allernötigsten zurechtzukommen.

Der Wächter stellt sich und seine Freunde kurz vor und dabei wird klar, dass sie alle aus den südlichen Nachbarländern stammen, die nach dem Zerfall der Sowjetunion wieder selbständig geworden sind. Ukdam selbst kommt aus Usbekistan, während seiner Militärzeit – damals noch in der Sowjetarmee – war er längere Zeit in Chemnitz stationiert. Und natürlich ist er als Usbeke Muslim. Auch seine Freunde, einer davon ein Tadschike, der auch über Nacht bleibt, sind Muslime. Es sind diese geradezu surrealen Momente, die das Reisen immer wieder zum Erlebnis machen: Ein Muslim bewacht eine neu erbaute russisch-orthodoxe Kirche mit goldenen Kuppeln, lädt einen zufällig vorbeikommenden Deutschen zum Bleiben ein und bewirtet ihn mit der traditionellen Gastfreundschaft – theoretisch viele Gegensätze, aber die sind in diesem Moment alle aufgehoben, nichts erscheint unlogisch oder unpassend. Alles fügt sich.

Ein anderes Beispiel für eine in diesem Fall etwas schräge Melange: Im eiskalten Jakutsk hört ein Taxifahrer (der verlangte Preis stempelt ihn zum Gauner) so leise Musik, dass der Text auf dem Rücksitz nur unterschwellig als Schleier ankommt, ähnlich dem Wohlfühlmusikgedudel im Kaufhaus. Aber das klingt doch irgendwie deutsch? Ja ja, meint der Fahrer fröhlich, das sei Dschingis Khan – das folgende Lied war dann prompt einer ihrer Gassenhauer. Ein sibirischer Taxifahrer ist Fan einer Disco-Band, die sich den Namen eines mongolischen Eroberers gegeben und vor 33 Jahren aufgelöst hat und die in ihrem Heimatland, rund 10.000 Kilometer weit entfernt im Westen, inzwischen nahezu vergessen ist. Während Dschingis Khan noch ihren Namenspatron besingt, denke ich zurück an eine andere Etappe, auf dem ersten Abschnitt dieser Reise. In der belgischen Hafenstadt Antwerpen gibt es seit einiger Zeit das faszinierende Havenhuis, in dem die Hafenbehörde untergebracht ist. Ein kühner Bau, entworfen von der inzwischen verstorbenen Architektin Zaha Hadid.

Sie setzte auf ein altes quaderförmiges Gebäude eine moderne Skulptur aus Beton, Stahl und Tausenden dreieckigen Glaselementen, die wie der Bug eines futuristischen Schiffs in den Himmel schneidet. Am Morgen, wenn kurz vor Dienstbeginn noch nicht hinter allen Fenstern Licht brennt, wirkt dieses „Traumschiff“ wie ein Mosaik aus dunkelblauen, hellblauen und weißen Puzzleteilen. Die visionäre Verbindung zwischen Bestehendem und Neuem ist inzwischen eine der größten Attraktionen Antwerpens – und ich fühle mich bei ihrem Anblick an die sehr deutsche Debatte um die Leitkultur erinnert: Wie passt so ein hypermodernes Gebäude, das von einer international tätigen Stararchitektin mit arabischen Wurzeln in einer belgischen Hafenstadt mit einer großen jüdischen Tradition realisiert werden konnte, in ein derartiges Denkmuster? Ist dieses Gebäude typisch für eine Hafenstadt, denen ja die Eigenschaft nachgesagt wird, fremde Einflüsse aufzusaugen? Kann es repräsentativ werden, sich ohne Brüche in Bestehendes einzureihen, und wenn ja, wofür oder für welche Kultur steht das Gebäude dann?

Letztlich berührt das auch die Frage, wie wir uns und den Raum, in dem wir leben, selbst definieren.

Wie wir Heimat definieren (das große Thema, das Quer 19 in der Ausgabe 13 aufgegriffen hat) und wie weit die größeren politischen und kulturellen Identitäten reichen, die wir für uns akzeptieren. Viele Deutsche würden sicher von sich sagen, dass sie auch Europäer sind. Über die örtliche Zugehörigkeit hinaus wird diese Selbsteinschätzung aber schon unscharf. Was bedeutet es, Europäer zu sein? Welche Eigenschaften, politischen Traditionen und Überzeugungen machen einen Europäer aus?

Gehört zum Europäersein auch eine Bejahung der kulturellen Vielfalt in diesem Lebensraum oder scheint es wichtiger, die Trennlinien zu betonen und zu schärfen, um – im Sinne der diskutierten Leitkultur – die Eigenständigkeit zu bewahren? Was ja letztlich eine Illusion ist, die immer nur eine kurze Zeitspanne umfasst, in der Veränderung und Transformation ausgeblendet werden können. Warum eigentlich ist es manchen Menschen so wichtig, wieder Grenzen in Form von Schlagbäumen zu haben? Die Grenze zwischen Frankreich und Spanien ist buchstäblich nicht zu spüren, an der finnisch-russischen Grenze verbringt man bei der Einreise nach Russland mindestens drei Stunden. Für mich persönlich ist dieses Europa ohne Grenzen eine wunderbare Errungenschaft, ein großer zivilisatorischer Fortschritt. Was nicht heißt, dass die souveränen Länder das Sicherheitsbedürfnis ihrer Bewohner vernachlässigen müssten, doch dem lässt sich gewiss auch mit anderen Mitteln beikommen.

Zusammengewachsen

Im Unterschied zu anderen Kontinenten ist Europa nicht isoliert, sondern mit Asien verwachsen. Wie siamesische Zwillinge hängen die beiden Erdteile zusammen, aber viele Verbindungen zwischen den Menschen scheint es nicht zu geben, was nicht verwundert, denn es gibt nur zwei Länder – Russland und die Türkei –, die sich über beide Erdteile erstrecken. Wer begreift sich schon als Eurasier? Ich jedenfalls kenne niemanden, der das für sich in Anspruch nehmen würde. Eine positive Antwort hierauf kommt, wenig überraschend, aus China. Dort wird, im Westen nur von einigen Spezialisten beachtet, seit vielen Jahren die Idee einer „Neuen Seidenstraße“ propagiert, also einer Wiederbelebung der mittelalterlichen Handelsroute zwischen China und Mitteleuropa, die den Warenaustausch zwischen Ost und West – am Austausch kultureller Ideen dürften Chinas Politiker eher nicht interessiert sein –fördern soll. Manchmal scheint es, als seien wir Europäer viel zu sehr mit uns selbst beschäftigt. Anders ist es kaum zu erklären, dass diese Idee nicht breiter diskutiert und nur gelegentlich auf Wirtschaftsseiten aufgegriffen wird. Die Strategen im Fernen Osten, die solche Ideen üblicherweise mit langfristiger Perspektive verfolgen, haben dabei sogar noch einen weiteren Kontinent im Blick und wollen Afrika mit in diese Neue Seidenstraße inkludieren.

Diese politischen und geostrategischen Überlegungen spielten für mich aber nur am Rande eine Rolle. Ich hatte mir vorgenommen, mehr oder weniger am Stück vom westlichsten Punkt Europas bis an den Pazifik zu fahren und dabei Menschen, Landschaften, Kulturen, Lebensumstände und möglicherweise Verbindendes auf diesem Doppelkontinent kennenzulernen. Natürlich ohne den vermessenen Anspruch, hinterher auf der gewählten Route durch Portugal, Spanien, Frankreich, Belgien, Deutschland, Finnland und Russland „alles“ zu sehen – ganz im Gegenteil.

Es ist wie beim Muschelsuchen am Strand: Man findet möglicherweise eine Perle, sucht nach Mustern oder Formen, die einem gefallen, und stößt dann „zufällig“ auf Überraschendes.

Fast 26.000 gefahrene Kilometer kamen bei dieser Expedition unter der Überschrift „Zwischen 2 Ozeanen“ am Ende zusammen, lediglich die finale Etappe an die Pazifikküste musste ich aufgrund der Wetterlage mit dem Flugzeug bestreiten; die Strecke durch das kaum besiedelte Jakutien war wegen der unverändert tiefen Temperaturen von bis zu minus 45 Grad mit dem eigenen Fahrzeug nicht zu machen. Formal war es eine Tour vom Cabo da Roca am Atlantik bis zum russischen Pazifikhafen Magadan – doch realiter bildete mein Heimatort am Westrand der Hallertau den Ausgangs- und Endpunkt der Reise und immer wieder den Bezugsrahmen, um das Erlebte einzusortieren.

Beispielsweise den morbiden Charme vieler Regionen in Frankreich – hier gibt es Dörfer, in denen offenbar seit Jahrzehnten keine neuen Häuser gebaut wurden. In denen als sichtbare Chiffren der Moderne mehr oder weniger neue Autos stehen und neue Verkehrszeichen, LED-Reklamen an einigen Geschäften hängen oder am Horizont ein Windrad von der Energiewende kündet, die auch in Gallien ein Thema ist. Der Rest ist alt, Tradition, museal. Häuser, so marode wie ein viel gelesenes Buch, auf deren Mauern vor Jahrzehnten Fassadenmaler die Werbung für Citroën oder die Garage Artigue gepinselt haben, als Citroën noch eine französische Institution war, groß wie das Land. Für die Bewohner wohl gewollte Normalität, für Touristen pittoresk bis romantisch.

So wie die historischen Holzhäuser in der sibirischen Metropole Irkutsk.

Bei früheren Besuchen war das auch ein Motiv, ohne viel darüber nachzudenken, wer eigentlich in diesen Gebäuden leben mag. Sie sind Zeugnisse einer alten Kultur und sichtbarer Ausdruck des Baustils, den die nach Osten vordringenden Russen mitgebracht haben, sodass die traditionellen Häuser über Tausende Kilometer ähnlich aussehen. Doch diesmal konnte ich (zufällig natürlich) auch einen Blick hinter die verwitterten Holzbalken und die schlecht schließenden Fenster mit den Eisblumen werfen, die mich an die Kindheit erinnerten:

Es ist die blanke Armut, die in diesen Häusern wohnt.

Ein Stromanschluss, aus dem sich eine Glühbirne die Energie für ein paar Watt Leistung saugt, ist der einzige Luxus für Losja und Angela Miroschuk, die sich das Wasser an einem Brunnen oder einer öffentlichen Verteilstelle holen müssen; in ihrer Wohnung visualisieren sich gut einhundert Jahre nach der kommunistischen Revolution unverändert die extremen Unterschiede zwischen dem Oben und Unten in der russischen Gesellschaft. Selbstverständlich ist trotz dieser sozialen Verwerfungen eine erneute Revolution nicht in Sicht, auch wenn die kommunistische Partei noch erstaunlich viele Anhänger hat, die den Lehren Lenins unverdrossen huldigen.

Wobei der Ur-Revolutionär mit einigen seiner Analysen sicher nicht immer ganz falsch lag. Vor allem der berühmte, von Karl Marx übernommene Satz „Das Sein bestimmt das Bewusstsein“ hat es in sich und viele hängen heute noch dieser Theorie an. Es sind aber nicht nur die sozialen Umstände, die einen Menschen prägen. Wer in einer der uralten, stolzen Siedlungen auf der Iberischen Halbinsel lebt, wird völlig unabhängig von der sozialen Stellung ein anderes Lebensgefühl entwickeln als ein Bauer, der in einem sibirischen Dorf wohnt und, wie in diesem Winter, monatelang mit Temperaturen bis zu 50 oder 60 Grad minus zurechtkommen muss. Kälte, die zehrt und hart macht. Am Abend sind die existenziellen Fragen die gleichen, doch untertags sorgen die Geschichten der Länder oder eben die klimatischen Bedingungen dafür, dass die Menschen jenseits individueller Präferenzen landesspezifische Eigenheiten entwickeln. Es gibt sie zweifellos, „die Franzosen“ oder „die Finnen“, um nur zwei Beispiele zu nennen. Auffallend ist das unter anderem beim Einkaufen: Während in Finnland kaum mehr „kleine Krämerläden“ zu existieren scheinen und stattdessen flächendeckend Super- und Hypermärkte für die Versorgung zuständig sind, ist in Frankreich der Bäcker oder die Boucherie beziehungsweise Charcuterie (hier geht es um Fleisch und Wurstwaren) um die Ecke unverändert eine Institution. Klar, es gibt auch in Frankreichs Dörfern Kulturbrüche wie Brot im Supermarkt oder einen „Brotautomaten“, der das Baguette nach dem Einwurf von genügend Münzen ausspuckt, als wäre versehentlich etwas Ungenießbares in die Maschine geraten. Doch die Kleinbetriebe führen hier keine Randexistenz auf der roten Liste, sondern gehören zum Lebensgefühl und sorgen für eine Buntheit, die in Finnland verloren gegangen scheint: Die Grillwürste makkara schmecken im ganzen Land gleich, der beliebte sill (Hering) im Glas kommt auch nur von einer Handvoll Anbieter, die normierten geschmacklichen Variationen halten sich daher in überschaubaren Grenzen, und darüber, was in diesem Land üblicherweise unter dem Begriff Brot läuft, mag man als Deutscher erst gar nicht reden. Ein Verlust an Kultur, dem sich die Menschen in Frankreich bisher sehr erfolgreich verweigern.

Die Kraft der Natur

Vielleicht am beeindruckendsten auf dieser langen Reise war die unbändige Kraft der Natur, die buchstäblich überwältigend und zu Hause in der Regel weit weniger roh zu spüren ist als an vielen Orten zwischen Cabo da Roca und Magadan. Beim zweiten Besuch am Cabo ist es kaum möglich, nach Sonnenuntergang ein Foto zu machen. Der Wind zerrt am Stativ, man hätte einen Sandsack benötigt, um es zu stabilisieren. Dabei ist es ein durchschnittlicher Wintertag und noch nicht einmal stürmisch. Das Meer schwappt rund 100 Meter unter dem Leuchtturm, der das Kap markiert, vergleichsweise ruhig gegen den Westrand Europas, und doch ist das Wasser in den Buchten mit einem weißen Teppich aus Schaumkronen überzogen, der eine Ahnung davon vermittelt, was passieren würde, wenn der Atlantik erst einmal richtig wütend ist. Überhaupt, die Kraft des Ozeans: Am einstmals mondänen Badeort Biarritz versuchen sich die Besitzer der Cafés und Hotels direkt am Strand mit meterhohen Sandsackbarrikaden vor der Gewalt des Wintermeers zu schützen. Bei Saint-Malo schaufeln Arbeiter tonnenweise nassen Sand von einer Uferstraße, die vielleicht einhundert Meter vom Wassersaum entfernt ist. Friedlich schaut das Meer an diesem kalten, sonnigen Morgen aus, doch der Sand wurde in der Nacht zuvor von meterhohen Brechern auf die Straße verfrachtet. Ein wenig weiter im Norden, in Granville in der Normandie, liegt das Schiff, mit dem wir vormittags noch auf die verhuschte Grande-Île, die einzig bewohnte der kleinen Insel-Gruppe Îles Chausey, gefahren sind, am Abend im Schlick des Hafenbeckens. Normalität und kein Unglück. Unvorstellbare vierzehn Meter beträgt hier der Tidenhub, der Unterschied zwischen Ebbe und Flut. Weltrekord, sagen die Einheimischen. Bei der nächsten Flut schwimmt das Boot wieder.

Später, in Finnland, sitze ich am Ufer des schneebedeckten Päijänne, der längste See des Landes mit zahlreichen Seitenarmen.

Die Wolken tauchen am Horizont in den zugefrorenen See, Weiß unten, Weiß und Grau oben und dazwischen eine schmale, dunkle Linie. Bäume, die im Zwielicht miteinander verschmelzen. Es ist immer wieder erstaunlich zu erleben, schnell diese Stille durchbrochen werden kann.

Vielleicht alle fünfzehn Minuten überfliegt in großer Höhe ein Jet den Landstrich, ansonsten ist es völlig geräuschlos. Sogar die träge fallenden Schneeflocken scheinen sich Mühe zu geben, möglichst leise aufzukommen. Weil es windstill ist, stoßen die Kristalle während des Fallens nicht aneinander und behalten daher ihre schöne, sechseckige Form. Diese absolute Ruhe im Freien ist eine Erfahrung, die in den ersten Minuten geradezu erschreckend ist, bis man sich an die Lautlosigkeit gewohnt hat. Später, in Sibirien, wirkt die Stille angesichts der Weite des Landes und der brutalen Winterkälte noch viel bedrohlicher. Russland macht dich klein, unbedeutend, verzagt. Und damit sich das Gefühl, in diesem endlosen Land verloren zu sein, einstellt, braucht es nicht einmal einen Tag, an dem man vielleicht zwei oder drei Stunden durch einen heftigen Schneesturm gefahren ist, ohne einen Parkplatz oder eine gostinitza (im Prinzip eine Pension) zum Übernachten zu finden. In Finnland sind die Dimensionen noch überschaubar, von Nord nach Süd kommt man auch im Winter nach zwei langen Fahrtagen. Russland dagegen ist für jemand wie mich, der in einem dicht bevölkerten Land lebt und beim Blick aus dem Wohnzimmerfenster vielleicht drei Kilometer weit sieht, unfassbar. Dieses Land mit dem Auto zu durchmessen, sprengt unsere Sehgewohnheiten und unsere Vorstellungskraft: Tausende Kilometer Fahrt durch Ebenen, in denen der Horizont eigentlich nie nahe ist, und wenn, dann nur für wenige Minuten, die es braucht, um eine zwanzig Meter hohe Erhebung zu überfahren und von dort in die nächste Riesenpfanne zu rollen. Ich bin mir sicher, dass sich ein Schiffbrüchiger auf dem Meer, weit weg von allen Ufern, ähnlich fühlt. Man möchte Tag und Nacht fahren, nur um endlich weiterzukommen, und muss sich doch disziplinieren – einen Marathon gewinnt man nicht mit einem Sprint auf den ersten Kilometern. Glücklicherweise gewöhnt man sich ein wenig an diese Endlosigkeit, nach einigen Tagen beherrscht einen dieses Gefühl des Verlorenseins zumindest nicht mehr stundenlang. Es lauert im Hintergrund und macht sich zum Beispiel immer dann bemerkbar, wenn das Auto ein ungewohntes Geräusch von sich gibt. Aber alles geht gut und am Ende, nach über 17.000 harten Kilometern auf russischen Straßen, ist nur Glas zu Bruch gegangen – die Windschutzscheibe, eine Glühbirne und zwei Scheinwerfergläser. Angesichts der ortsüblichen Fahrgewohnheiten (und meiner Befürchtungen) eine große Überraschung.

Schlecht beleumundet

Mein Ziel, der Pazifikhafen Magadan, hat in Russland auch heute noch einen zweifelhaften Ruf. In St. Petersburg schütteln die Leute, denen ich erzähle, nach Magadan zu wollen, nur den Kopf. Lange galt die früher gesperrte Stadt als Tor zum Gulag; in der Gegend gibt es noch Relikte aus der Zeit, in der Stalin sein Land terrorisierte und Zehntausende Frauen und Männer in die sibirischen Straflager verfrachten ließ, wo viele von ihnen umkamen. Den Opfern wurde mit der Beton-Skulptur „Maske der Trauer“ auf einem Hügel, von dem aus man die Stadt überblicken kann, ein beeindruckendes Denkmal gewidmet. Victoria Bilger, die mit ihrem Mann Artur in Magadan die Safariagentur Kayur betreibt, kennt diese Seite der Stadt natürlich. Aber für sie ist etwas anderes als die dunkle Vergangenheit entscheidend, wenn sie von ihrer Faszination für diese Gegend im Osten Russlands erzählt: „Wir hatten vor einiger Zeit überlegt, nach Kaliningrad im Westen umzusiedeln, weil einige Verwandte von uns dort wohnen und andere in Deutschland. Denen wollten wir näher sein. Aber das ist nichts für uns. Wir sind die Natur, die Weite der Landschaft gewohnt. In Kaliningrad bist du nach 400 Kilometern am Ende angelangt, hier fahren wir 500 Kilometer, ohne auf Menschen oder eine Siedlung zu treffen.“ Rund dreißig Kilometer östlich Magadans gelangt man nach Ola. In der Nähe der 302 Jahre alten Siedlung, die von Ureinwohnern gegründet wurde, kann man beides erleben, die grandiose Natur und die russische Realität. Nyuklya war bis in die 80er-Jahre ein Fischerdorf, direkt ans Meer gebaut, mit rund einhundert Einwohnern. Jetzt ist es einer dies lost places, von denen es in Russland so viele gibt. Die Pazifikküste ist überzogen von einem verschachtelten Panzer, eine Eisskulptur, die ähnlich wie das Havenhuis am Morgen mit wenigen Farben auskommt. Schwarz schimmert das Eis an einigen Stellen, an anderen ist es glasklar, dann wieder weiß oder türkisgrün. Der Blick findet Halt an den schneebedeckten Bergen auf der anderen Seite der Bucht, der Pazifik ist hier nicht zugefroren. Ein gestrandeter Bus, indem ein riesen großer Teddybär Wache hält, Wäscheklammern auf einer Leine und ein Haus, in dem die Vorhänge darauf warten, ebenso wie die Fenster und das Dach, von der Natur ausgelöscht zu werden, zeugen davon, dass hier einmal gelebt und gearbeitet wurde. Stundenlang kann man an der Pazifikküste entlang wandern, über Eisplatten balancieren, den Wind und die Kälte und die Rohheit der Winterlandschaft spüren. Hier, am östlichen Ende Russlands, fühlt man sich seltsamerweise nicht verloren, versteht die Schwärmerei Victorias für ihre Heimat. Eine großartige Gegend. Ich bin am Ziel, es ist fantastisch.

Trotzdem freue ich mich auf meine Heimat.

Auf das Frühjahr mit seiner Aufbruchstimmung, die vertrauten Gesichter und die vertrauten Straßen und Waldwege, den Spargel und den Blick hinaus ins Grüne, der, ganz anders als hier, nicht weit reicht. Einen kurzen Flug und dann rund neuneinhalbtausend mühsam zu fahrende Kilometer weit ist diese Heimat noch entfernt. Aber am gefrorenen Strand in Nyuklya, in dieser überwältigenden Szenerie, denke ich nur an das Schöne. Die russische Melancholie wird sich früh genug wieder einstellen an den Tagen, an denen man nach zwölf oder vierzehn Stunden auf der Straße das Gefühl hat, nichts geschafft zu haben. Bis man irgendwann doch angekommen, heimgekommen ist.