Alles läuft

Text: Florian Festl | Fotos: Richard Kienberger

Sebastian Grabmair schaut nach, ob alles läuft. Und die Ilm enttäuscht ihn nicht, so wie sie ihn in 76 Jahren noch nie enttäuscht hat. Sie schiebt auch jetzt neues Wasser durch die Turbine am Sägewerk. Der ganze Fluss stürzt nach kurzem Stau drei Meter tief, zwängt sich dröhnend durch einen Stahlmantel, lässt darin Schaufeln rotieren und seine Energie in die Lichtmaschine fahren, die unter ständigem Rattern Strom freisetzt, der die Säge am Laufen hält. Mal führt der Fluss 1.700 Liter Wasser in der Se­kunde, und wenn es länger nicht regnet, vielleicht noch 1.400 Liter. Jedenfalls kommt immer genug nach; die Ilm speisen Seitenarme und verlässliche Quellen. „Sie ist sehr konstant“, sagt Grabmair anerkennend, als wäre die Ilm eine gute alte Bekannte. Wenn etwas weiterläuft, täglich, pausenlos, ohne abnorme Ausschläge und mit der Aussicht, dass es so bleiben wird, behagt es ihm besonders.

Weitermachen. Das hat Grabmair gelernt.

Sie haben weitergemacht, als die Mühle 1942 abgebrannt ist. „Ich war vier Jahre alt, und der Schnee lag so hoch, dass ich nicht drüberschauen konnte“, erinnert er sich an den Tag des großen Feuers. Jemand hatte versucht, die eingefrorene Mechanik der Mühle mit dem Bunsenbrenner aufzutauen. Er entflammte versehentlich das Getreide, die vereiste Ilm gab kein Löschwasser her, und es brannte und brannte. Und noch nach drei Wochen durchzog ein Netz von Glutnestern die Ruine. Sein Vater, schon er ein Sebastian Grabmair, nahm damals den Schlepper und fuhr auf der Autobahn nach München. Er lud die Steine zerbombter Stadthäuser auf, aus denen sie die neue Zierlmühle bauten. Die Zierlmühle zwischen Pfaffenhofen und Rohrbach gibt es seit 1434, daran sollte ein Feuer, und sei es noch so verheerend, nichts ändern.

Alles läuft

Grabmaier ist fest verwachsen mit dem Land, das seine Familie seit Generationen stets im Ganzen einem Einzelnen der Ihren vermachte, sodass es nie weniger, allenfalls mehr wurde. „So weit das Auge reicht“, sagt Grabmair, so weit reiche auch sein Grund. Er muss sich nicht wie ein Städter ausgehfertig machen, wenn er vor die Tür tritt, und so schreitet er nun in Pantoffeln und grüngrauen Jägerklamotten seine Ranch ab. Rundherum ändern sich die Dinge. Auf der anderen Seite der Schnellstraße, außer Sichtweite, haben sie ein Groß-Lager hingepflanzt, das wie ein überdimensionaler Schuhkarton die Hopfengärten überragt. Der ICE am Horizont rast über einen soeben verstärkten Bahn-Damm. Die Sägewerke flussauf- und flussabwärts schließen reihenweise. Doch Grabmair bleibt. Er mahlt kein Korn mehr auf seinem Anwesen, da musste sich die Familie schon in den Fünfzigerjahren den großen Müllern geschlagen geben, aber das Sägen werden sie nicht lassen. Auch mit 76 Jahren packt Grabmair sechs Tage die Woche an, hüpft hinter die Steuerknüppel der großen Greifzange und füttert die Gatter der Säge mit tonnenschweren Baumstämmen, die als Balken, Kanthölzer, Bretter und Latten enden.

Aus dem halben Landkreis bringen Bauern ihr Holz zu Grabmair, der es mit dem Strom aus der Ilm sägt, sodass sie Scheunen, Maschinenhallen oder Jägerstände daraus bauen können. Und als gäbe es keine Baumärkte, schneidet Grabmair auch kleine Mengen für Wochenend-Heimwerker zurecht. „Ich hab kein Klump“, sagt er. „Kein billiges Leimholz und keine Supermarktware mit großen Ästen drin. Keine Latten, die schon beim Anschauen brechen.“

Seine Botschaft: Grabmair-Holz hält länger, wie eben alles hier.

In vielem gleicht dieser Sebastian Grabmair einem glücklichen Hobbit in seinem Auenland. Felder und Wiesen, allein unterbrochen durch das glitzernde Geschlängel der Ilm, schließen an die stattliche Hofstelle an, die ein Saum aus Bäumen umkränzt, aus dem zwei schlank aufschießende Pappeln ragen und Schutz vor Blitzeinschlägen gewähren. „Dass Pappeln gegen Blitzschlag helfen, ist altes Wissen. Nur Nichtsahnende hauen solche Bäume um“, sagt Grabmair. Einer seiner Vorfahren musste noch mit Stoßgebeten gegen die Gefahr von oben vorgehen. Als der Blitz einschlug, versprach er, eine Kapelle zu errichten, sollte der Hof kein Raub der Flammen werden. Jener alte Bauer hielt sein Versprechen und Grabmair sorgt bis heute dafür, dass die Kapelle nicht verwittert. „Die Blitz-Geschichte spielte sich am 7.7.1777 ab“, sagt Grabmair, „und die Sieben ist ja eine Glückszahl.“ Das Leben hat es gut mit ihm gemeint und ihm in Form eines grünen Königreichs ein Übermaß an Glück beschert. Natürlich hat auch die Erle auf dem Feld nebenan sieben Arme.

Aus den Falten des Gesichts Grabmairs blitzen wache Augen, hinter einer etwas spröden, ja fast sägerauhen Fassade, wohnt ein sehr zufriedener und lustiger Kerl, der vor niemandem Angst hat – allenfalls davor, dass zu viel Neues auf
einmal hereinbricht.

„Wenn ich jeden Tag in der Früh aufstehe,
und es fehlt mir nichts, ist das das Schönste, was es gibt“,

sagt er. Urlaub braucht Grabmair keinen. „Vielleicht mal einen Ausflug mit der Frau nach Kipfenberg.“ Mehr nicht. „Mein Urlaub ist, wenn ich den Grill auf den Hof schiebe und wir gemeinsam Brotzeit machen.“ Will er sich entspannen, setzt er sich mit der Angel und einer Halben Bier an die Ilm. Oder er geht in seinem Wald auf die Jagd.

Die allgemeine Grabmair’sche Haltbarmachung der Dinge erstreckt sich auch auf Tiere. Ein Zimmer des Gehöfts bewohnen Präparate, darunter ein Fuchs, ein Haubentaucher, zwei Wiesel, der schillernd schöne, leider tote Eisvogel, den die Ilm einst ans Wehr anschwemmte, und das Kitz, das der Hofherr vor Jahrzehnten versehentlich bei der Feldarbeit überfahren hat. An der Wand im Flur hängt auch eine Schwarz-Weiß-Aufnahme aus den Vierzigerjahren, darauf 18 Leute, manche in Anzügen und Kleidern, andere in Arbeitskluft und Schürzen, und ganz vorne ein blonder, auf­geweckter Junge: Sebastian Grabmair. „Damals hatten wir noch Landwirtschaft, die Mühle und die Säge“, erinnert er sich. Gegen Kost und Logis und etwas Geld lebten zu dieser Zeit Mägde, Knechte und Verwandte mit auf dem Hof.

Alles läuft

Heute hat Grabmair noch einen Mitarbeiter. Lange quälte ihn die Frage, wer denn nach ihm die Geschäfte der Zierlmühle führen sollte. Die einzige Tochter entschied sich für ein anderes Leben: Sie wurde Bürokauffrau, heiratete und lebt mit Mann und Kindern in Aschaffenburg.

Auf ein Inserat im Landwirtschaftsblatt hin bewarben sich Dutzende Bewerber als Nachfolger,

doch keiner schien Grabmair tauglich.

Entspannen kann er sich erst, seit er Stefan getroffen hat. Es passte: Der junge Mann kennt das Geschäft, er stammt aus einer Familie, die ein Sägewerk führt, und er kann anpacken. Grabmair und seine Frau adoptierten ihn. Zu zweit stehen sie nun an den Sägen und der Hobelmaschine in der Zierlmühle. Der Junge lässt den Alten das Wort führen, auch weil er gleich wieder weitermuss: nach hinten, zu den 18-Meter-Stämmen, schauen, dass alles weiterläuft. Demnächst wollen sie eine Lagerhalle für das frisch geschnittene Holz bauen. Es wäre die erste große Neuerung seit 40 Jahren. Damals hat Grabmair mit seinem Vater eine neue Turbine eingebaut.