Scharf, schärfer, Krempels

Text: Richard Kienberger | Fotos: Richard Kienberger

Es gibt Menschen, die ernsthaft der Meinung sind, Scheren könne man mit einem simplen Schleifband schärfen.

Samuel Grempels bereitet es erkennbar fast körperliche Schmerzen, wenn er davon erzählt. Übrigens: Samuel Grempels steht allenfalls im Mietvertrag, auf der Stromrechnung oder im Führerschein. Für seine Frau, Freunde und die meisten Kunden heißt der Schleifer kurz und bündig Sami, so ist es ihm am liebsten. Für ihn ist das ein Kunstfehler, eine Schlamperei, ein fast schon verächtlicher Umgang mit einem genial einfachen und effizienten Werkzeug. Scheren schleifen ist eine Kunst, und spätestens wenn man Sami beim fachgerechten Scharfmachen einer Schere beobachtet hat, begreift man den Unterschied.

Der Scheyerer hat das Schleifen zu seiner Passion gemacht.

Und er gehört zu den Handwerkern, denen im Zweifelsfall die Schönheit einer perfekten Arbeit wichtiger ist als der Stundenlohn, den die Kunden am Ende dafür zu bezahlen haben. Alte Schule eben. Was kein Wunder ist, denn Sami hat sein Handwerk vor langer Zeit in dem Lkw-Werk Steagul Roșu gelernt. Das ist rumänisch und bedeutet „Rote Fahne“. Später wurden in dem Lastwagenwerk die weiland berüchtigten Roman-Diesel-Trucks gebaut, deren Rußausstoß weltrekordverdächtig war. Die Not im ehemals sozialistischen Rumänien führte dazu, dass Werkzeugmacher wie Sami mehr oder weniger nebenbei auch lernen mussten, Haushaltsgeräte wie eben Scheren zu schleifen. Danach verfeinerte der Facharbeiter seine Fertigkeiten in dem Unternehmen SBC (Scule Brasov Codlea), das sich auf den Bau von Holzbearbeitungswerkzeugen spezialisiert hatte – und mangels moderner Technologie vor allem von den handwerklichen Fähigkeiten der Mitarbeiter lebte.

Grempel

1987, drei Jahre vor der Revolution in seinem Heimatland, siedelte Sami Grempels mit seiner Familie ebenso wie viele andere deutschstämmige Rumänen in die Bundesrepublik aus, im Jahr darauf verschlug es ihn nach Scheyern. Ein gewollter Bruch in der Biografie, den die Aussiedlerfamilie als Chance für einen Neuanfang und damit für ein besseres Leben als in der darbenden und verrotteten Sozialistenrepublik begriff, die ihren Bürgern keine Perspektiven bieten konnte. Mit Zähigkeit verfolgte der Werkzeugmacher seinen Weg, der ihn zunächst als Mitarbeiter in verschiedene Unternehmen und schließlich in die Selbstständigkeit führte. Vor zehn Jahren machte Sami die anfangs im Nebenberuf betriebene Schleiferei zum Hauptberuf – und schleift seitdem fast alles, was sich irgendwie schleifen lässt. Messer, Beile, Stechbeitel, Meißel, Fleischwolf-Messer, die Blätter von Kreissägen, Kettensägen, Bohrer, Kegelsenker, Forstner-Bohrer, Hobelmesser oder Fräsköpfe. Dafür hat er in Scheyern einen Souterrain-Raum angemietet. In der Apotheke im Erdgeschoss wird den Menschen geholfen, in der darunter liegenden Etage verhilft Sami Grempels stumpfen Werkzeugen zu neuer Schärfe und neuem Glanz. Die kleine Werkstatt ist vollgestellt mit Maschinen, alle gebraucht erworben. Und fast ausnahmslos in mattem lindgrün gestrichen – anscheinend war das einmal die Standardfarbe, die von allen Maschinenherstellern verwendet wurde. Den Schimmer von Neuem sucht man hier vergebens, Grempels hat sich seine Werkstatt nicht schön, sondern am Notwendigen orientiert eingerichtet.

Und schleift dort zum Beispiel Scheren. Aus wie vielen Teilen besteht das im Prinzip simple Werkzeug? Vermutlich würden die meisten Menschen die Frage mit „zwei“ beantworten – aber sie haben die verbindende Schraube (manchmal ist es auch eine Niete) vergessen. Die muss zuerst gelöst werden, wenn man eine Schere fachgerecht schleifen will.

Mindestens zehn Arbeitsgänge sind nötig, ehe der Scheyerer eine stumpfe Schere zu neuem Leben erweckt hat.

Fast zärtlich geht er mit dem Metall um. Alte Scheren, die den Geruch von Stoffballen bei einem Schneider evozieren oder an spinnwebenverhangene Werkstätten und nach Rasierwasser duftende Baderstuben erinnern, scheinen ihm fast schon Respekt einzuflößen: „Viele Leute glauben, wenn eine Schere alt und vielleicht sogar rostig ist, dann taugt sie nichts mehr. Aber sehr oft stimmt das gar nicht. Wenn das Ausgangsmaterial gut war, kann der Stahl durch den Alterungsprozess und die Temperaturschwankungen im Lauf der Jahre sogar besser werden.“ Wie gut der verwendete Werkzeugstahl ist, sieht ein Spezialist wie Grempels unter anderem am Funkenflug beim ersten Schleifen. Dagegen fliegen beim finalen Schliff kaum mehr Funken. Dann entfernt der Handwerker die zuvor entstandenen feinen Grate mit einer Scheibe, die nicht aus Stein oder Schleifpapierlamellen, sondern nur noch aus zähem Schleifvlies in verschiedenen Körnungen besteht.

Am Ende müssen die Enden der beiden Flügel passgenau aufeinander abgestimmt sein, man muss durch die Kanten der geschlossenen Schere sozusagen hindurchsehen können, beim Schneiden – egal ob von Stoff oder von Haaren – muss ein optimales Verhältnis von Leichtgängigkeit und Widerstand spürbar sein. Nur dann ist das Arbeitsgerät perfekt geschliffen. Ob es Scheren sind, die er zu schleifen hat, oder andere Aufträge zu erledigen sind, ist Sami letztlich egal: „Ich finde eigentlich in jedem Werkzeug eine Herausforderung.“ Dieses Arbeiten auf höchstem Niveau ist es, was den Werkzeugmacher umtreibt, schnelle Jobs so lala kommen für ihn nicht infrage. Er könnte es nie ertragen, wenn ein Kunde zurückkommt und wirklich Grund zu einer Beschwerde hätte. Mitunter bringen Kunden Geräte in die Werkstatt, bei denen sie sich nicht schlüssig sind, ob sie noch brauchbar sind oder in den Müll gehören: „Wenn es sich lohnt, dann richte ich das Zeug wieder her. Und wenn die Leute dann beim Abholen Augen machen wie die Kinder unter dem Weihnachtsbaum, freut mich das am meisten.“

Auch wenn Sami Grempels schon lange in Deutschland angekommen ist, spürt man immer wieder, dass er in einer anderen Kultur groß geworden ist. Es sind Kleinigkeiten, die den Unterschied ausmachen, in der Sprache oder im Umgang mit anderen Menschen. Und wie viele Einwanderer, die in einer neuen Umgebung zurechtkommen und sich ihr anpassen müssen, hat er auch nach Jahrzehnten immer noch eine gewisse Scheu davor, missverstanden zu werden. Daher bittet er darum, coram publico nicht näher auf die Unterschiede zwischen „Schleifhandwerk“ und „Schleifindustrie“ einzugehen. Aber für das Verständnis der Geschichte ist das nicht unwichtig. Moderne Schleifautomaten nötigen Grempels großen Respekt ab: „Es ist unglaublich, was die heutige Technik leistet. Diese Maschinen ermöglichen einen enormen Durchsatz.“ Aber, was er eigentlich nicht erwähnen möchte: In einem Schleifautomat wird notwendigerweise immer auch viel mehr Material weggenommen als beim handwerklichen, manuellen Schleifen. Vor allem wenn der Schleifer über Gefühl und Fachkenntnis verfügt. Anders gesagt: Ein Sägeblatt, das nur automatisch geschliffen wird, hat sein Lebensende deutlich eher erreicht als ein nur in Handarbeit nachgeschärftes.

Grempel

Der Umgang mit dem kalten Werkzeugstahl, Behandlung und Pflege von Werkzeugen, handwerkliche Perfektion: Immer wieder kommt Grempels auf diese Themen zu sprechen.

Für ihn umfasst „Perfektion“ viel mehr als nur den Vorgang des Schleifens.

Das beginnt eigentlich schon, wenn der Kunde die Werkstatt in Scheyern betritt und auspackt, was geschliffen werden soll: „Ich mag es, wenn ich sehe, dass die Leute ihre Werkzeuge sorgfältig und mit Respekt behandeln und nicht zum Beispiel mit einem Hammer darauf herumklopfen.“ Und beim Abholen sollte man nicht versuchen, frisch Geschliffenes einfach in einem Korb zu stapeln. Auch wenn Sami Grempels das selber nie so sagen würde: Man tut ihm weh damit: „Die Schneidewerkzeuge müssen sorgfältig in Papier verpackt werden. Ansonsten stoßen beispielsweise die Messer aneinander und haben schon wieder die ersten Scharten, bevor man zu Hause ist.“ Mag sein, dass die durchschnittliche Hausfrau (oder der ebenso durchschnittliche Hausmann) so eine Scharte nicht erkennt. Aber sie wäre definitiv da – und Grempels weiß es. Folglich wird alles, was in Scheyern geschliffen wurde und nicht in speziellen Hüllen steckt, mit gelesenen Zeitungen geschützt. Anders wäre es ja nicht perfekt!